Herr aller Dinge – Andreas Eschbach

Über die Liebe und große Visionen

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Herr aller Dinge © Lübbe

Ein Klappentext wie:

»Ich weiß wie man es machen muss, damit alle Menschen reich sind. […] Das geht, es ist sogar unglaublich einfach.«

macht jeden Leser, der Spaß an Visionen hat, neugierig. Soviel sei vorweg genommen, hier verspricht er nicht zu viel. Und wenn man den Schriftsteller Eschbach schon ein wenig kennt, weiß man, dass er gern mit überbordenden Zukunftsträumen spielt. Nun also mit dem, die Armut zu überwinden.

Zwei außergewöhnliche Kinder in Tokio …

Hiroshi und Charlotte könnten unterschiedlicher kaum sein. Er ist der Sohn einer Wäscherin, hat ein Faible für Roboter und ein ausgeprägtes Talent, kaputte Technik zu reparieren. Sie ist die verwöhnte französische Botschaftertochter mit einer ungewöhnlichen Begabung für Fremdsprachen und einem sechsten Sinn, der sie die Geschichte von Dingen erfühlen lässt. Sie lernen sich in Tokio kennen und verbringen heimlich Zeit miteinander. Hiroshi denkt sich eine Vision aus, wie er die Armut in der Welt, die er im Vergleich zu seiner Freundin auch selbst erleidet, überwinden kann. Charlotte hingegen spürt, als sie ein japanisches Seppukumesser berührt, etwas Unbegreifliches. Wird ihre Entdeckung die Geschichte der Menschheit neu schreiben?

Hiroshis und Charlottes Lebenswege trennen sich zunächst und treffen in Boston/USA erneut aufeinander. Er studiert Robotertechnologie am MIT, sie Anthropologie in Harvard. Ihre Visionen nimmt niemand so recht ernst und die Liebe will sich nicht offenbaren. Dann verschwindet Hiroshi spurlos und meldet sich erst wieder bei Charlotte, als er kurz davor steht, seine Utopie zu verwirklichen. Und dies ist erst der Anfang einer Reise, die der Menschheit Zukunft und Vergangenheit ein vollkommen neues Gesicht verleihen wird.

…ziehen aus, die Welt zu verändern

Andreas Eschbach – ein Name, der für Thriller steht, die sich mit Ideen irgendwo zwischen der Realität und Phantastik beschäftigen. Daher mag man Eschbachs Literatur wahlweise als „Mystery-Thriller“ oder „Science Fiction“ klassifizieren, es ist eigentlich egal. Gute Unterhaltung mit Köpfchen ist jedenfalls garantiert.

In „Herr aller Dinge“ verändert Eschbach mit Hilfe zweier Genies, der Roboter- und Nano-Technologie und einer magischen Begabung die Welt. Typisch für den Autor ist, das er recht schnell „in medias res“ geht, bereits im Prolog verrät uns sein Hauptprotagonist, ein junge Japaner, dass er die Armut abschaffen will. Knapp 400 Seiten sind zu lesen, bis wir erfahren, wie Hiroshi dieses Wunder zu bewirken gedenkt und am Ende, nach fast 700 Seiten, ist alles ganz anders. Denn Hiroshis Vision ist in „Herr aller Dinge“ nicht das einzige Phänomen, das Selbstverständlichkeiten unserer Zivilisation in Frage stellt.

Der Beginn von „Herr aller Dinge“ liest sich wie ein klassischer Jugendroman, ein wenig wie „Pünktchen und Anton“ von Erich Kästner. Ein Junge aus armen Verhältnissen freundet sich mit einem Mädel aus reichem Haus an. Statt im Berlin der späten 20er Jahre befinden wir uns im Tokio der Neuzeit und als roter Faden zieht sich Hiroshis Vision durch die Handlung. Charlottes „Gabe“, die Geschichte von Gegenständen zu erspüren, führt uns zu Hiroshis Wurzeln und seiner halb amerikanischen Abstammung. Überhaupt erzählt die erste Romanhälfte hauptsächlich von Charlottes und Hiroshis Freundschaft und ihrer aufkeimenden und verleugneten Liebe zueinander. Ihre „Visionen“ stehen beiden zunächst im Weg. Hiroshis Fähigkeiten verhelfen ihm zu einer Erfindung, die ihm ein bequemes Studentenleben ermöglicht. Doch sein wichtiges Vorhaben wird nicht wirklich ernst genommen. Charlotte ist mit dem arroganten und chronisch untreuen Erben einer reichen Familie verlobt. Nicht nur Hiroshi, sondern auch der Leser, fragt sich, was sie an James Benett III findet. Es ist die klassische Lovestory, in der die Liebenden nicht zueinander finden können. Charlotte trennt sich von dem chauvinistischem Schnösel, als Hiroshi aus Boston verschwindet und sich anschickt, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Eschbach gibt seinen Hauptfiguren viel Raum für ihre Charakterentwicklung. Sie werden erwachsen und bauen ihre besondere Beziehung zueinander auf. Und somit legt der Autor besonderen Wert darauf, seine Helden dem Leser nah zu bringen, was in seinen anderen Werken manchmal vermisst wurde. Trotzdem das man Hiroshis Vision zunächst nicht genau kennt, bewundert man seine Beharrlichkeit, mit der er sein Ziel verfolgt. Und seinen unerschütterlichen, manchmal naiven Glauben an eine Zukunft mit Charlotte. Diese hat es dagegen schwerer, das Herz des Lesers zu erobern, haftet ihr doch ein wenig das Image einer verwöhnten Diplomatentochter an. Ihre Liaison mit dem Bostoner Geldadel passt hier ins Bild. Charlottes Werdegang wirkt überwiegend fremdbestimmt, nur sporadisch und endlich in der Schlussphase schimmert ihr eigenes Profil durch.

Als der Autor die Katze aus dem Sack lässt, wie Hiroshi nun die Armut überwinden will, diskutiert er all die „Wenns“ und „Abers“, die das Projekt zum scheitern verurteilen könnten. Hier ist Eschbach klar in seinem Element, unterbreitet dem Leser utopische Ideen und dessen Grenzen. Der Autor verblüfft durch seine technologische Fachkenntnis und seine Fähigkeit, diese an den Leser zu bringen, in eine unterhaltsame Story als Teil eines straffen Spannungsbogens einzuflechten. Man fühlt sich an keiner Stelle belehrt oder gar gelangweilt, sondern stets ernst genommen, was Fragen und mögliche Sackgassen angeht. Ökologische Themen gehören ebenfalls dazu, wie die Konsequenzen der Klimaerwärmung oder Gefahren durch die Umweltvergiftung. Als handlungstreibendes Motiv beschreibt Eschbach die Leiden der Menschen infolge einer Quecksilbervergiftung Mitte der 1950er Jahre an der Südküste Japans in der Bucht von Minamata. Wann immer der Autor diesen Teil der Geschichte auch entwickelt hat, wer denkt hier nicht auch an die möglichen Folgen der Atomkatastrophe in Fukushima im März 2011?

Zum Finale möchte ich hier lediglich sagen, dass es dem Leser nachhängt, nachdenklich macht und berührt. In einer Weise, wie es gute Utopien tun, man diskutiert deren Möglichkeiten und Konsequenzen. Und so hat Andreas Eschbach mit „Herr aller Dinge“ wieder ein außergewöhnliches und schön erzähltes Science-Fiction-Werk geschaffen. Denn wir verfolgen mitfühlend und in atemloser Spannung, wie Menschen und ihre Visionen unser Weltbild aus den Angeln heben können.

Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de

Herr aller Dinge
Andreas Eschbach
Science-Fiction
Bastei-Lübbe
2011
688

Funtastik-Faktor: 88%

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