Alles, was einen Horroroman phantastisch macht
Der Fischer-Verlag präsentiert mit „Der Mitternachtspalast“ den zweiten „Young Adult“ Roman des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafón. Der erste („Der Fürst des Nebels“) erschien 1993, 1994 folgte „Der Mitternachtspalast“ und „Der dunkle Wächter“ bildete 1995 den Abschluss dieser Reihe. Wie der Autor selbst in einer Vorbemerkung erläutert, war es ein Rechtsstreit, der uns den Genuss dieser frühen Zafóns vorenthielt. Mit diesen Büchern verband der Autor die Hoffnung, Leser jeden Alters für sich zu gewinnen.
„Mir gefällt der Gedanke, dass das Erzählen von Geschichten alle Altersgrenzen überschreitet, und so hoffe ich, dass sich auch die Leser meiner Erwachsenen-Romane auf diese Reisen voller Magie, Geheimnis und Abenteuer begeben.“
Soviel darf ich schon verraten; dem Spanier ist gelungen, was vielen anderen Autoren der „All-Age“-Phantastik nicht recht glücken will, diese Romane begeistern tatsächlich über Altersgrenzen hinweg.
An der Pforte zur Hölle
Der Direktor des Waisenhauses St. Patrick Thomas Carter nimmt nicht an der Abschiedsfeier der 16-jährigen Jungen teil, die in wenigen Tagen aus seiner Obhut entlassen werden. Stattdessen beobachtet er die sieben Mitglieder des Geheimbunds „Chowbar Society“, die sich ewige Freundschaft geschworen haben und regelmäßige nächtliche Treffen in einem verfallenem Nachbargebäude abhalten.
Bevor sie sich in dieser Nacht zu ihrem „Mitternachtspalast“ davonstehlen, besuchen eine Dame und ihre Enkelin das Waisenhaus. Die hochbetagte Aryami Bosé ergibt sich als diejenige zu erkennen, die den nun 16-jährigen Ben einst an der Schwelle ablegte. Sie warnt Carter vor einer tödlichen Gefahr, die den Jungen bedrohe. Als wenig später das Büro des Direktors explodiert, wird klar, dass ein Teufel aus dunkler Vergangenheit die Gegenwart des Frühsommers 1932 eingeholt hat.
Das Mädchen Sheere findet Aufnahme in die „Chowbar Society“, im Austausch gegen das Erzählen ihrer Lieblingsgeschichte. Sie erzählt aus einem Buch ihres Vaters, den sie nie kennen gelernt hat. Der Ingenieur und Schriftsteller lebte den Traum von der Einleitung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Indiens durch den Ausbau des Schienenverkehrs. „Jheeters Gate“, ein prachtvoller Bahnhof in Kalkutta, sollte diesen Aufstieg symbolisieren. Diese Vision wandelte sich für den Vater der Geschwister Sheere und Ben jedoch zum Albtraum. Und nun geraten auch sie und ihre Mitstreiter auf der Suche nach ihren Wurzeln in einen höllischen Strudel aus Wahnsinn und Tod.
Schauriges Abenteuer in einer Stadt voller Gegensätze
Zafón führt uns in „Der Mitternachtspalast“ an einen ungewöhnlichen Schauplatz, nach Kalkutta im Jahr 1932. In Kalkutta prallen 15 Jahre vor der Unabhängigkeit Indiens Armut und Reichtum aufeinander. Bis 1911 war Kalkutta Hauptstadt der Kolonie Britisch-Indien und Sitz der mächtigen East-India Company. Die prunkvollen Bauten der Kolonialisten und hinduistische Tempel und Statuen prägen das Stadtbild, in dem sich infolge des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs jedoch immer mehr Not und Kriminalität ausbreitet. Somit bieten Handlungsort und -zeit bereits gute Voraussetzungen für ein düsteres Schauermärchen.
Perfekt gewählt und in Szene gesetzt wurden ebenfalls die handelnden Personen. Wir treffen auf eine verschworene Gruppe Jugendlicher, die unmittelbar davor stehen, ohne einen familiären Rückhalt das einzige Heim verlassen zu müssen, das sie je kannten, das Waisenhaus St. Patrick. So ist die „Chowbar Society“ nicht einfach eine Jugendclique, sondern ihren Mitgliedern zugleich ein über Jahre verlässlicher Familienersatz, der nun seiner endgültigen Bewährungsprobe gegenüber steht. Es erscheint nur logisch, dass auch Sheere, ebenfalls eine Waise und – wie sich herausstellen soll – die Zwillingsschwester Bens, aufgenommen wird. Einen gewissen „Fünf Freunde“-Charme kann die „Chowbar Society“ sicherlich nicht verleugnen. Doch der unnachgiebige Einsatz füreinander wirkt glaubwürdig. Zudem lässt die unterschiedliche Charakterisierung der Freunde, als stiller Künstler, ehemaliger Kleinkrimineller, vergeistigter Bücherwurm, als Wissenschaftler und Abenteurer die Gruppe lebensecht wirken. Nur selten hat man das Gefühl, dass der demonstrierte Heldenmut übertrieben ausfällt.
An übersinnlichen Horrorelementen und Angst einflößenden Phänomenen lässt die Geschichte wenig zu wünschen übrig. Und doch zieht sie den Leser vor allem durch Drama und Melancholie in ihren Bann. Immer wieder wertet der Autor seine Story mit religiösen und historischen Bezügen und kleinen Anekdoten auf. Vielleicht tut der Autor hier manchmal ein wenig zu viel des Guten, denn einigen dieser Elemente fehlt dann doch der unmittelbare Bezug zur Handlung. Auch das zusätzliche phantastische Element der Geisterdame wäre nicht nötig gewesen und wirkt etwas bemüht.
Aufgrund spektakulärer Wendungen in der Handlung ist man nie sicher, wie die Konfrontation mit dem übermächtigen Feuerteufel ausgehen wird – und sieht sich am Ende doch überrascht, mit welcher Konsequenz und Feinfühligkeit Zafón sein Abenteuer auflöst. Eine besondere persönliche Note verleiht der zeitweilig zu Wort kommende Ich-Erzähler, Bens bester Freund Ian, der Story. Er wendet sich mit seinen Gedanken direkt an den Leser, wodurch ein Gefühl der Verbundenheit entsteht. Auch die letzten Worte in „Der Mitternachtspalast“ gehören Ian und beschließen den Roman mit einer anrührenden Nachbetrachtung der Ereignisse.
Insgesamt zeugen diese frühen Werke, und ganz besonders „Der Mitternachtspalast“, bereits vom immensen phantastischen Einfallsreichtum und der hohen Erzählkunst des Carlos Ruiz Zafón. Ein wenig Abstriche muss man leider bei der Qualität der Übersetzung machen. Wenig geläufige Wortschöpfungen wie die Pluralform „Tunnels“ stören doch ein wenig den Lesefluss.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Nebel - Serie
Horror
Fischer
2010
224
Funtastik-Faktor: 85