Kreative, intelligente und faszinierende Science-Fiction mit Psycho-Touch
Die amerikanische Autorin Ursula K. Le Guin ist mit Fantasy-Werken wie „Erdsee“ und Science-Fiction wie „Die linke Hand der Dunkelheit“ bekannt geworden. Sie gilt als eine begnadete Erzählerin, die ihren phantasievollen Geschichten einen gesellschaftskritischen oder philosophischen Hintergrund verleiht. „Die Geißel des Himmels“ (orig. „The Lathe of Heaven“) ist nun erstmals als vollständige deutschsprachige Fassung in der „Editon Phantasia“ heraus gebracht worden – ein besonderer Leckerbissen für Science-Fiction Liebhaber?
George Orrs fatale Träume
Im Rahmen der „Freiwilligen therapeutischen Behandlung“ nach einem Medikamentenmissbrauch, kommt der sonst unauffällige und schüchterne George Orr zu Dr. William Haber, einem Psychiater und Schlafforscher. George hat Angst vor seinen Träumen und versuchte, sie mit Psychopharmaka zu unterdrücken. Dazu hat er auch guten Grund, denn er träumt wirkungsvolle Träume, solche die die Realität beeinflussen.
Erstmalig wurde sich George dieser zweifelhaften Gabe bewusst, nachdem er als Jugendlicher von seiner Tante Ethel sexuell belästigt worden war. Er träumte, sie sei bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen und fand sich in einer Realität wieder, in der genau das bereits sechs Wochen zuvor geschehen war. Außer George wusste niemand, dass die Tante noch am Abend zuvor mit ihm und seiner Mutter am Tisch gesessen hatte.
Nicht jeder von Georges Träumen ist wirkungsvoll, zunächst war es nur einer von vielen, in Stresssituationen treten sie häufiger auf. Diese Realitätsveränderungen machen George nicht nur zunehmend orientierungslos, sie verursachen Beklemmung und Panik. So kommt George schließlich, nachdem er mehrere Nächte nicht geträumt, also keinen REM Schlaf bekommen hat, als kraftloses Nervenbündel zu Dr. Haber.
Der Psychiater hört sich Georges’ Geschichte fasziniert an und diagnostiziert anhand dieser zweifelhaften Grundlage zunächst eine Psychose. Aus reiner Neugier versucht Dr. Haber ein traumwissenschaftliches Experiment. Er setzt George unter Hypnose und induziert mit einem so genannten „Traumverstärker“, einem Gerät, dass über die Gehirnwellen sofort die Traumphase aktiviert, einen bestimmten Traum – und findet sich ebenfalls in einer geringfügig veränderten Realität wieder. Ohne sein Wissen mit seinem Patienten zu teilen, findet Dr. Haber immer mehr Gefallen an den sich durch Georges Träume bietenden Möglichkeiten. Dr. Haber zwingt seinen Patienten, eine nach seinen Vorstellungen bessere Welt zu schaffen. Doch Georges Träume entwickeln eine eigene, nicht manipulierbare Dynamik.
Aus Dr. Habers Vision über eine Welt ohne Krieg erschafft Georges Traum eine Realität mit Außerirdischen, die auf dem Mond landen und eine Raumstation angreifen. Diese Wirklichkeit beendet alle Kriege auf der Erde, denn die Menschen vereinigen sich angesichts eines neuen, potentiell viel gefährlicheren Feindes. Um Rassenkonflikte zu überwinden, kreiert Dr. Haber durch Georges Träume einheitlich graue Menschen. Dadurch löscht er die Existenz der gemischt rassigen Heather aus. Sie war eine junge Anwältin, die George bei seinem Vorhaben, den Psychiater von seinen Manipulationen an der Realität abzubringen, unterstützen wollte.
Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen…
…zieht sich als roter Faden durch Ursula K. Le Guins Sci-Fi Novelle „Die Geißel des Himmels“. Die Erzählung entstand 1971 und spielt im Portland/Oregon des Jahres 1998. Für die Generation der Endsechziger, zur Zeit der Friedensbewegung und der Anti-Kriegs-Demonstrationen, war dieser Gedanke von elementarer philosophischer Bedeutung.
Gerade in der heutigen Zeit stellt sich diese Frage angesichts der Möglichkeiten im Bereich der Reproduktionsbiologie erneut. Wird der Wert der humanen Individualität immer noch anerkannt, oder existiert in vielen Köpfen bereits ein Leitbild, wie der Mensch auszusehen hat? Wo hört medizinische Versorgung auf und fängt Euthanasie an?
Gegensätzliche Charaktere und eine dystopische Welt
Die beiden Hauptcharaktere George Orr und Dr. William Haber sind individuell und trotz des futuristischen Hintergrunds sehr glaubwürdig gezeichnet. Zwei gegensätzliche Figuren treffen aufeinander und durchleben jeweils eine ganz eigene Entwicklung, die sehr einfühlsam beschrieben wird. Der Psychiater wird von der Macht, wie ein Gott handeln zu können, verführt und George Orr entwickelt sich vom schwachen Neurotiker zu einem abgeklärten und klugen Analytiker, der beharrlich einen Ausweg sucht.
Ursula K. Le Guin beschreibt detailliert und treffsicher die sich ständig wandelnde Realität. Mit jeder Veränderung, die George erträumt, verändert sich auch die Geschichte und das Wissen um die Welt. Ständig wird der Leser mit neuen und unerwarteten Wendungen konfrontiert und man erahnt erst gegen Ende, wie dieses Chaos aufgelöst werden kann.
Intelligente und stilvolle Unterhaltung, nicht nur für Sci-Fi Fans
Selten ist eine so kreativ konstruierte und komplexe Handlung mit so viel Gespür für Stil und intelligenter Unterhaltung präsentiert worden, wie in Ursula K. Le Guins Werk „Die Geißel des Himmels“. Dieser relativ kurze Roman ist an jeder Stelle spannend zu lesen und vermittelt seine Botschaft stets zum richtigen Zeitpunkt. Die Autorin stellt kompetent und augenzwinkernd die Grundlagen der Psychoanalyse in Frage. Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die psychologischen Details besonders am Anfang sehr ausschweifend erklärt werden und sie dem Leser etwas zu viel Fachterminologie zumutet.
Fazit: ein bisschen Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“, ein wenig „Grundkurs der Psychologie“ – oder einfach ein Stück besonders kreativ geschriebene, niveauvolle und unterhaltsame Science-Fiction Literatur.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Science-Fiction
edition phantasia
1974
180
Funtastik-Faktor: 80%