Urban Fantasy – irgendwie anders
Das erstmals 1997 in deutscher Sprache erschienene „Niemalsland“ von Neil Gaiman gilt schon fast als ein Klassiker der Fantasy, man weiß nur nicht genau, von welchem Subgenre. Gehört er zur humoristischen Fantasy, den Märchen für Erwachsene oder doch zu einer leichteren Variante der Dark-Fantasy?
Jedenfalls beruht „Niemalsland“ (orig.: „Neverwhere“) auf der gleichnamigen BBC-Serie, für die der Autor die Drehbücher schrieb. Die TV-Serie war leider nicht einmal in England besonders erfolgreich, dagegen machte das Buch „Niemalsland“ Gaiman bei einem weltweiten Fantasy-Publikum populär.
City of London – Downtown
Richard Mayhew ist ein verspielter Spinner, der Trolle auf seinem Computerbildschirm sammelt und Chaos um sich verbreitet. Dennoch ist er als Broker erfolgreich und hat sich sogar eine gute Partie angelacht. Jessica plant, ihren Verlobten ihrem Chef, einem bedeutenden Kunstmäzen, vorzustellen. Auf dem Weg zum Treffpunkt stolpern sie über eine verletzt auf dem Asphalt liegende junge Frau. Richard beschließt, zu helfen, transportiert das Mädel heim und sich selbst damit in ein vollkommen anderes Leben.
Door, so heißt die geheimnisvolle Besucherin, kommuniziert mit Ratten und wird von zwei finsteren Typen gejagt. Sie verspricht dem kurzerhand entlobten Richard, sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen, sobald er einen Freund von ihr aufgetrieben hat, einen Penner, der sich als Marquis de Carabas vorstellen wird. Door und ihr Begleiter sind tatsächlich bald wieder verschwunden, doch sie scheinen Richards Leben mitgenommen zu haben. Seine Bankkarten sind ungültig, sein Job existiert nicht mehr, keiner seiner Freunde und Kollegen kann ihn sehen oder hören.
Also bleibt Richard nichts übrig, als den beiden zu folgen – in die aberwitzige Welt Unterlondons, wo Kinder auf Brücken entschwinden, Kriegerinnen Ungeheuer jagen und ein wandelnder Markt ein mehr als bizarres Angebot offeriert.
Ein Potpourri an Mysterien und Akteuren
Die Idee ist ganz klassisch Urban Fantasy: Ein ganz normaler Durchschnittstyp gerät durch Zufall in eine phantastische Welt, die parallel zur realen existiert. Das, was Neil Gaiman aus dieser Idee gemacht hat, ist weniger klassisch, sondern vielmehr schillernd, bizarr, düster und komisch zugleich.
Da gerät ein Wertpapierhändler, der eigentlich für dieses Londoner „Business-Class“-Leben viel zu nett ist, an ein Mädel aus einer Welt voller bizarrer Wunder und Gestalten, die die U-Bahnschächte bevölkern. Sein Leben im London unserer Tage endet und so folgt er Door in ihre Welt. In dieser Unterwelt präsentiert der Autor einen derartigen Ideenreichtum, das man sich im Nachhinein wundert, wie das alles auf knapp 370 Seiten Platz finden konnte.
Es treten unzählige Fantasyfiguren und spezielle Individuen auf. Einige spielen nur kurzzeitig eine wichtige Rolle und verschwinden abrupt wieder, andere huschen nur vorbei, wenige begleiten Richard und Door bis zum Ende. Zu letzteren zählen Mr. Croup und Mr. Vandermar, zwei bösartige Berufsmörder und Sadisten, die bereits Doors Familie auslöschten und nun Jagd auf das Mädchen machen. Andere Personen, wie z.B. der Marquis oder der Engel Islington sind nicht so leicht zu durchschauen. Was sie alle auszeichnet, ist die liebevolle Überzeichnung, die der Autor seinen Figuren angedeien ließ, viele sind außerdem für Knalleffekte und skurrile Überraschungen gut.
Man könnte fragen, ob in dieser Fülle an Figuren und Phänomenen auch noch genug Raum für eine gute Geschichte ist. Die Antwort darauf müsste eindeutig jein lauten. Ja, weil Gaiman nicht nur eine spannende Quest an originellen Schauplätzen erzählt, sondern auch noch eine Krimihandlung, nämlich die Suche nach dem Auftraggeber des Mordes an Doors Vater unterbringt. Nein, weil man tatsächlich einen stringenten Aufbau und oft auch den roten Faden vermisst.
Das schmälert das Lesevergnügen allerdings nicht, denn die Geschichte wird stets voran getrieben und fasziniert durch Gaimans märchenhaft poetischen und zynisch-witzigen Stil. Da stößt man auf lauernde Kerzen und Ereignisse, die Feiglinge sind, weil sie immer in Rudeln auftreten. Freuen Sie sich auf englische humoristische Phantastik vom Feinsten. Was Douglas Adams „Per Anhalter durch die Galaxis“-Reihe für die Science-Fiction und Terry Pratchetts „Scheibenwelt“-Romane für die klassische High-Fantasy sind, nämlich einzigartige Parodien ihres Genres, ist Neil Gaimans „Niemalsland“ für die moderne Fantasy.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf Phantastik-Couch.de
Fantasy
Heyne
1996
368
Funtastik-Faktor: 86