Freitag, 26. April 2019 – PAN Branchentreffen zweiter Tag
6. Zu schön, um wahr zu sein – Historisch-archäologische Fälschungen
• Michael Lagers, Museumspädagoge des LWL-Museums für Archäologie, Herne
Im „Narrenschiff” aus dem 15. Jahrhundert wusste Sebastian Brant: „die welt, die will betrogen syn.“ Dass sich das bis heute nicht geändert hat, bewies uns Dr. Michael Lagers, Museumspädagoge des LWL-Museums für Archäologie in Herne, an vielen Beispielen. Das älteste gefundene Stück ist eine gefälschte Steinaxt, die in der Mitte eine Gussnaht hat, als wäre sie aus Bronze gegossen. Das war bereits in der Zeit 2800 bis 1800 vor Christus. Die Falschmünzer trieben zu allen Zeiten ihr Schindluder. In Augusta Raurica (Nähe Basel) fanden die Archäologen eine ganze Fälscherwerkstatt. Kupfer lässt sich leicht versilbern oder vergolden. Dass es sich um gefälschte Münzen handelt, bekamen die Forscher ganz schnell heraus, weil die Fälscher Kaiserbildnisse verschiedener Epochen miteinander kombinierten. Im elften Jahrhundert begannen die Urkundenfälschungen, Dr. Lagers zeigte das am Beispiel des Klosters Abdinghof in Paderborn. Im 19. Jahrhundert waren ägyptische Artefakte gefragt, ein Maurer stellte sie en masse her und kombinierte Götter und deren Insignien aufs Geratewohl.
Die Älteren erinnerten sich noch gut an den Skandal um die Hitler-Tagebücher, die der „Stern” 1983 marktschreierisch veröffentlichte. Konrad Kujau hatte sie auf DDR-Kladden geschrieben. Doch fast alle wollten glauben, dass es Hitler persönlich war, der seine Gedanken zu Papier gebracht hatte und sogar mit dem zweiten Band von „Mein Kampf” begonnen. Irrtümern auf zu sitzen, kann schon mal passieren. In einer Kiesgrube tauchten Schädel auf. Weil ein Labor in Frankfurt/Main falsche Messergebnisse lieferte, wurden die Köpfe, die in Wahrheit aus dem Rokoko stammten, in die Antike verlegt. Selbst Heinrich Schliemann interpretierte Funde falsch, weil er die Schriften Homers zu sehr für bare Münze nahm.
7. Neue Welten denken – Wie viel Realismus verträgt/benötigt eine phantastische Welt?
• Bernhard Hennen, Autor
Bestsellerautor Bernhard Hennen sprach von seinen eigenen Erfahrungen im Vortrag „Neue Welten denken – Wie viel Realismus verträgt/benötigt eine phantastische Welt?”. Für Scheitern oder Erfolg gäbe es keinen falschen oder richtigen Weg. Wichtig sei, dass jeder Autor mit Herzblut schreibe. Er erzählte die Story über die Kritik seines Lektors bezüglich der beschriebenen Schwertkämpfe. Wie er dadurch Schwertkämpfer auf Mittelalterfesten wurde. Nachdem er drei bis vier Jahre Extremcamping erlebt hatte, konnte er umso besser über vom Regen schwere Wollumhänge und den Geruch des Lagerfeuers schreiben.
Für seine Gezeitenweltromane ließ er sich von einem befreundeten Geologen eine Welt bauen, in der die Plattentektonik zueinander passte, sowie Meeresströmungen, Hoch- und Tiefdruckgebiete, Wetterlagen und Landschaften sich logisch aneinander schmiegten. Jeder Autor solle sich fragen, wieviel Details er wirklich brauche. Er stellte zwei Aussagen in den Raum: “Fantasyleser sind unglaublich offen.” und „Fantasyleser lieben das Vertraute im Fremden.” Er bekam Kritik von seinen Lesern der „Elfenritter”, weil er in einem Renaissance-Setting Schießpulver benutzt und die mittelalterliche Welt verlassen hatte. Hennen hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Leser ein zu exotisches Setting nicht annehmen möchten. Im Zweifelsfall richtet er sich nach Kritik, die von Testlesern, die sich nicht kennen, und vom Lektorat zugleich kommen.
8. Die Star Trek Physik – Warum die Enterprise nur 158 Kilogramm wiegt und andere galaktische Erkenntnisse
• Dr. Metin Tolan, Professor für Experimentelle Physik 1, Technische Universität, Dortmund
Ein Raunen der Vorfreude ging durch den Saal und durch die Tweets, auf diesen Vortrag freuten sich die meisten Teilnehmer des PAN Branchentreffens 2019. Metin Tolan führte uns in die Geheimnisse der Star Trek Physik ein. Mit beispielhaften Filmsequenzen sprach er den Star Trek Nerd an, um anschließend auf das jeweilige physikalische Phänomen einzugehen.
In der Einführung zu Star Trek erklärte uns Metin Tolan, dass Star Trek trotz seiner Erfolgsgeschichte nicht immer unumstritten war. Die Frankfurter Rundschau schrieb im September 2004 einen belustigenden Verriss mit dem Titel „Puppen-Küche“ über das Star Trek der 70er Jahre.
Des Weiteren erfuhren wir, was ein Klasse M Planet ist und welche es in den Weiten des Universums gibt. 1400 Lichtjahre von uns entfernt entdeckte das Kepler-Teleskop einen Planeten mit einer Stickstoff-Sauerstoff Atmosphäre, auf dem sich Leben entwickeln könnte. Entscheidend ist die Position in einer sogenannten habitablen Zone, also mit dem richtigen Abstand zur Sonne. Kepler 452C nennt man den Planeten, der 1,5 Milliarden Jahre älter ist, als unsere Erde. Fortschrittliches Leben, das seine Geschichte auf Trägerwellen in den Weltraum zu pusten in der Lage ist, mag dort existiert haben. Allerdings landete diese Sendung auf der Erde möglicherweise bei den Dinosauriern, die kein entsprechendes Empfangsgerät hatten.
Wir lernten, was Lichtjahre und Lichtgeschwindigkeit sind. Um die Sonne zu erreichen, braucht das Licht acht Minuten, zum nächsten Sonnensystem, um Alpha-Centauri, schon gut vier Jahre. Um Douglas Adams zu zitieren:
„Der Weltraum, heißt es, ist groß. Verdammt groß. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie groß, gigantisch, wahnsinnig riesenhaft der Weltraum ist.“ [Douglas Adams, „Per Anhalter durch die Galaxis“]
Daran und an der Seltenheit, mit der Klasse M Planeten auftreten, liegt es, dass wir bisher keinen Kontakt zu Aliens hatten.
Metin Tolan erklärte, warum die Enterprise zwei Antriebe hat: den Impuls-Antrieb und den Warp-Antrieb. Während der Impuls-Antrieb unseren heutigen Rückstoß-Raketenantrieben nachempfunden wurde, überwindet der Warp-Antrieb das im Universum geltende Tempolimit: die Lichtgeschwindigkeit. Der Warp-Antrieb ist dafür da, um die Zeitverzerrung bei Reisen nahe Lichtgeschwindigkeit zu vermeiden. Seit Einsteins Relativitätstheorie wissen wir, dass wir langsamer altern, je schneller wir uns bewegen. Wenn wir mit Lichtgeschwindigkeit fliegen könnten (was physikalisch unmöglich ist) würden wir nicht altern und eine fortgeschrittene Zeit vorfinden, wenn wir wieder nach Hause kommen. Der Warp-Antrieb bildet eine Normalzeitblase um das Raumschiff, krümmt die Raumzeit und ermöglicht so Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit ohne Zeitverzerrung.
Metin Tolans erläuterte noch weitere physikalische Phänomene und Grundlagen rund um Star Trek, die man auch in seinem Buch „Die Star Trek Physik“ nachlesen kann. Der Vortrag war für Eva das Highlight des 2. Tages des PAN Branchentreffens, denn er war spannend und lehrreich zugleich, nicht nur für Star Trek Nerds.
9. Cyborgs sind Realität
• Enno Park, Informatiker und Publizist
Enno Park, Informatiker und Publizist, entscheidet selbst, wieviel Ruhe er hat. Als Träger eines Cochlea-Implantats kann er Geräusche nach Belieben an- und ausstellen. Er ist, seitdem er es trägt, ein realer Cyborg.
Mit vielen Folien zeigte er, in welch hoher Qualität es bereits möglich ist, Gliedmaßen zu ersetzen, Dinge mit Gehirnströmen zu steuern und einfach nur Blödsinn zu machen wie mit Implantaten LED’s unter der Haut leuchten zu lassen. Teilweise fühlten die Beispiele sich an wie “Böse, neue Welt” und ließen einen gruseln. Andererseits schöpfen durch technische Lösungen behinderte Menschen Hoffnung und können mehr am Leben teilhaben. Seit 2016 studiert Park an der TU Berlin Technik-Philosophie und hat den Verein Cyborgs e.V. gegründet. Von seinem Fachgebiet wird die Menschheit in Zukunft mehr hören.
10. Roll inclusive – inklusive Welten in Fantasy und Science-Fiction
• Judith Vogt, Autorin
• Aşkin-Hayat Doğan, Rollenspielredakteur und Diversity-Trainer
• Frank Reiss, Psychotherapeut und systemischer Supervisor
Judith Vogt, Frank Reiss und Aşkin-Hayat Doğan stellten das Projekt „Roll Inclusive“ vor. Das Buch ist ein Essayband zum Thema Diversität und Repräsentation im Pen&Paper Rollenspiel.
„Roll Inclusive“ konnte auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter gefördert werden und soll als Buch, epub E-Book und Hörbuch verfügbar sein. Ausgeheckt haben das Projekt Judith Vogt und Frank Reiss auf einem Panel der FeenCon, da es ein zusammenfassendes Werk zu diesem Thema noch nicht gibt. Aşkin-Hayat Doğan wurde als Repräsentant eines Menschen mit Migrationshintergrund und als Diversity-Trainer ins Boot geholt.
Der Schwerpunkt der Essay-Sammlung liegt beim Pen&Paper Rollenspiel, die Texte dienen als Ideen- und Ratgeber für mehr Diversität in Spielewelten. Sie lassen sich aber auch auf Plots der Phantastik-Literatur übertragen. Diversität meint die Vielfalt und Unterschiedlichkeit in allen Bereichen des menschlichen Lebens und beschränkt sich nicht auf Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung. Diese Sammlung möchte erreichen, dass Diversität im Rollenspiel präsenter wird und einer Marginalisierung von Menschen und Lebensentwürfen, die in irgendeiner Weise nicht dem sogenannten Standard entsprechen, entgegen wirken.
In der Diskussion kam die Frage auf, wie die AutorIn eines Rollenspiels oder Romans herausfinden kann, ob sie Diversität angemessen und richtig dargestellen. Judith Vogt verwies auf die „Own voice“ Recherche, also auf die Befragung von Menschen, die die entsprechende Diversität leben. Ein Sensitivity Reading, also ein gezieltes Testlesen, kann ebenfalls helfen, auf Stolpersteine aufmerksam gemacht zu werden. Spielerische Tools, die helfen, Diversität zu bewerten, sind ebenfalls in „Roll Inclusive“ zu finden.
Abschließend hatte ich Gelegenheit, über den Unterschied zwischen auferlegtem Klischee und erwünschtem Identifikationsmerkmal zu diskutieren. Diana Menschig hatte die beste Erklärung parat: das auferlegte Klischee dient oft der Ausgrenzung. Das selbstgewählte Identifikationsmerkmal hingegen dient dazu, sich einer Gruppe oder Kultur zugehörig zu fühlen.
11. Liverollenspiel und Reallife Experiences – Flucht in fremde Welten oder neue Literaturform?
• Moderation: Lena Falkenhagen, Autorin und 2. Vorsitzende PAN
• Tom Finn, Autor
• Jorina Clara Hilsberg, Otherlifegames
• Robin Junicke, Theaterwissenschaftler
• Jakob Schmidt, Journalist dlf
Als LARPerin und P&P-Spielerin sperrte PL-Redakteurin Amandara ihre Ohren auf, da ihr Reallife Experiences aus dem Rollenspiel unbekannt waren. Jorina Clara Hilsberg dominierte mit ihrem ungewöhnlichen Projekt die Diskussionsrunde mit Autoren, Journalisten und Theaterwissenschaftlern. „[Tales] Inside“ sperrt 200 Spieler in eine Fabrikhalle ein. Setting: Eine statische Gesellschaft lebt seit knapp fünfhundert Jahren unter der Erde mit begrenzten Vorräten und einem strengen Kastensystem. Für uns moderne, in einer Demokratie lebenden Menschen, die alles im Supermarkt kaufen können, eine extreme Herausforderung. Macht und Ohnmacht als Selbsterfahrung, Täter oder Opfer sein, eingesperrt in ein Geflecht aus Konflikten und Regeln. Die totale Polarisierung und Überwachung, eine KI, die nicht lügt: Sich darauf einzulassen, erfordert Mut und Hingabe. Die Teilnehmer debattierten über weitere Ideen und Projekte wie ein Theaterstück, in dem die Zuschauer stundenlang mitspielen. Zwei Dinge sind bei Amandara hängen geblieben: Das Gehirn erlebt ein Spiel als real und ein Stück von dem, was Du im Spiel erlebt hast, nimmst Du mit in die reale Welt.
Samstag, den 27. April 2019
Zukünftige Arbeitswelten: Grundlage für phantastische Geschichten
• Volker Wittpahl, Institut für Innovation und Technik, Berlin
Als Nachtrag ein paar Worte zu dem Workshop: „Zukünftige Arbeitswelten: Grundlage für phantastische Geschichten”. Wegen Zeitknappheit wurde es ein Vortrag anstelle eines Workshops. Gehalten von Volker Wittpahl aus dem Institut für Innovation und Technik. Er stellte die Szenario-Technik vor, die Autoren bei ihrem Weltenbau nützlich sein kann. Die PESTEL-Betrachtung setzt politische, ökonomische, soziokulturelle, technologische, ökologische und rechtliche Trends und Visionen miteinander in Verbindung. Mit Grafiken zeigte er die vielfältigen Verflechtungen und gegenseitige Beeinflussungen der Bereiche auf. Für Recherchen empfahl er das Shell Sky Scenario, die Daten, die die Bertelsmann-Stiftung zur Verfügung stellt und die des World economic forum. Die Zahlen, Daten und Fakten basieren auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sind jedoch nach dem Financier der Szenarien gewichtet. Ein kurioses Beispiel zum Schluss: Der erfolgreichste Heiratsvermittler war die KI Tinder. Nach ihren Berechnungen kamen feste, glückliche Beziehungen heraus. Allerdings finanzieren glückliche Paare in fester Beziehung kein Partnervermittlungsprogramm.
Die Redakteurinnen von Phantastisch-lesen erlebten das jährliche Branchentreffen des Phantastik-Autoren Netzwerks als inspirierend, tiefsinnig, bildend und gesellig, so dass es zu den Höhepunkten des Blogger-Jahres avanciert ist.
Amandara M. Schulzke und Eva Bergschneider
Das PAN2019 Erlebnis vom ersten Tag findet ihr hier.