Entführt den Leser in eine zauberhafte Welt
Der deutsche Titel „Rückkehr nach Erdsee“ hat mit dem Originaltitel „The Other Wind“ zwar nichts zu tun, ist aber trotzdem passend gewählt. Jeder Leser, der die vier Bücher von Ursula K. Le Guins „Erdsee“-Zyklus genossen hat, wird sich bei der Lektüre dieses 2001 erschienenem fünften Teils ein wenig wie ein Heimkehrer fühlen.
Erles Albträume
Den jungen Zauberer Erle quält Nacht für Nacht der gleiche Albtraum. Er steht an der Steinmauer, die die Welt der Lebenden von den Toten trennt und wird von seiner verstorbenen Frau, oder seinem Meister gebeten, sie zu befreien. Ged beunruhigen einige Details aus Erles Schilderungen. Warum sagte ihm seine Frau, sie habe ihren wahren Namen verloren? Und wie konnte die Berührung ihrer Lippen Erles Mund verbrennen?
Der ehemalige Erzmagier kann nichts weiter für Erle tun, als ihm ein Kätzchen zu schenken, dass zu einem traumlosen Schlaf verhelfen soll. Ged schickt Erle nach Havnor zu König Lebannen, dem ehemaligen Prinzen Arren. Der Regent hat zuvor Tehanu zu sich gerufen. Er hofft, dass die Tochter des mächtigen Drachen Kalessin ihm bei einem ernsten Problem helfen kann. Die westlichen Inseln Havnors werden von Drachen angegriffen, die die Ernten der Bauern vernichten und sie von ihren Höfen vertreiben. Haben Erles Träume und der Zorn der Drachen eine gemeinsame Ursache?
Irian und Tehanu – Bindeglieder zwischen Drachen und Menschen
Am Königshof residiert ebenfalls Prinzessin Seserakh aus dem Kargad-Reich. Sie wurde Lebannen als Braut geschickt, um die verfeindeten Völker zu versöhnen. Doch der König geht ihr aus dem Weg. Tenar unterhält sich mit Seserakh in ihrer Muttersprache und entdeckt, dass die scheue Dame viele Mythologien aus alter Zeit kennt.
Tehanu nimmt Kontakt zu den rebellierenden Drachen auf und schafft es, dass sie einen Unterhändler nach Havnor schicken. Irian, eine Drachentochter, die die Gestalt wechseln kann, kommt zum königlichen Rat.
Ein runder Abschluss und ein kleiner Wermutstropfen
„Rückkehr nach Erdsee“ knüpft zwar an den vierten „Erdsee“-Band „Tehanu“ an, erzählt aber auch Ereignisse des dritten Bandes „Das ferne Ufer“ zu Ende, in der Ged mit dem damaligen Prinzen von Enlad das Totenreich betrat. Der Roman führt den Leser zu den Grundfesten der Erdsee-Historie, als Drachen und Menschen gemeinsam die alte Sprache verwendeten. Die Wege der Völker trennten sich, als die Menschen den Besitz und die Drachen die Freiheit wählten.
Kann die Feindschaft zwischen Mensch und Drache nun endgültig überwunden werden? Und was hat es mit der Welt hinter der Steinmauer, dem Land der Toten auf sich?
In diesem märchenhaft erzählten Abenteuer, beantwortet die Autorin beide Fragen und tritt mit einem begeisternden, wenn auch etwas abrupt endenden Schlussakkord von der Erdsee-Bühne.
Selten fühlt man in einem Roman, der kaum 300 Seiten umfasst, mit so vielen verschiedenen Persönlichkeiten. Der Leser hadert mit dem gereiften König und leidet mit dem naiv-liebenswerten Kesselflicker Erle. Man schmunzelt über den schrägen Humor des Zauberers aus Paln, Seppel und freut sich über das erwachende Selbstbewusstsein Tehanus.
Lediglich der ehemalige Erzmagier kommt in „Rückkehr nach Erdsee“ deutlich zu kurz. Mutig hat die Autorin dem Held der Vorgängerbände eine Nebenrolle zugewiesen. Doch Ged fehlt, das Erdsee-Finale ohne ihn erscheint irgendwie nicht vollständig.
Die Gabe der Erzählkunst
Die „Erdsee“-Romane sind das Lebenswerk der Autorin Ursula K. Le Guin. 1968 erschien der erste Band „A Wizard of Earthsea“ und „The Other Wind“ mehr als 30 Jahre später. Ihrem poetisch-klassischen Erzählstil, haben die Lebensjahre nichts anhaben können, eher im Gegenteil.
Den amerikanischen Text hat Joachim Pente in eine leicht altdeutsch klingende Sprache übertragen, was ihre zeitlose Eleganz unterstreicht. Mit einprägsamen Bildern beschreibt die Autorin auch wirklichkeitsfremde Schauplätze und abstrakte Szenen, wie die im Totenreich:
„Er sah diesen schwarzen Staub, diesen schwarzen Stein jetzt vor sich. Dürre Flussbetten, in denen niemals Wasser floss. Nichts Lebendiges. Kein Vogel, keine Feldmaus, die sich irgendwo verkroch, kein Gesumm und Geglitzer von kleinen Insekten, den Geschöpfen der Sonne. Nur die Toten mit ihren leeren Augen und ihren stummen Gesichtern. Aber starben Vögel nicht auch?“
Mit einer Leichtigkeit, die man nur bewundern kann, diskutiert Le Guin grundlegende Ängste der Menschheit, nämlich die vor dem Tod und vor dem Unbekannten. Dabei gibt sie keinerlei ideologische oder religiöse Richtung vor. Natürlich möchte die Schriftstellerin in erster Linie ihre Leser unterhalten und nicht philosophieren. Und doch regen ihre Geschichten zum Nachdenken über die elementarsten Fragen der Menschheit an. Zugleich entführt die Autorin den Leser in eine zauberhafte Welt, nicht ohne Unheil, aber voller Menschlichkeit.
Demjenigen Kritiker, der Fantasy-Literatur für belanglos hält, möchte man die wunderbaren „Erdsee“-Bücher in die Hand drücken und der Autorin mitteilen: „Frau Le Guin, es ist mir ein Vergnügen, Ihr besonderes Werk genießen zu dürfen“
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Erdsee-Sequel
Fantasy
Piper
2001
282
Funtastik-Faktor: 90%