Ich kann nicht mit Dir und nicht ohne Dich
Audrey Niffenegger erzählt in ihrem zweiten Roman, fünf Jahre nach Veröffentlichung ihres Welterfolges „Die Frau des Zeitreisenden“, die Geschichte zweier Zwillinge. Der Originaltitel „Her Fearful Symetrie“ deutet an, dass die Geschwister etwas Unheimliches an sich haben. So wird diese Geschichte nicht mit den phantastischen Elementen der Science-Fiction erzählt, sondern mit denen des Horror-Genres.
„Die Geister, die ich rief..“ (Goethe)
Die Londonerin Elspeth Noblin stirbt an Krebs. Sie hinterlässt ihren Nichten, den Zwillingen Julia und Valentina, ihren gesamten Besitz, vorausgesetzt, sie leben ein Jahr in ihrem Londoner Apartment und erhalten dort keinen Besuch von ihren Eltern. Mit ihrer Schwester Edwina, genannt Edie, hatte sich Elspeth zerstritten, nachdem die mit ihrem Verlobten in die Staaten durchgebrannt war. Erst mit dem herannahenden Tod nimmt Elspeth den Kontakt wieder auf und kündigt Edie ihr merkwürdiges Testament an. Julia und Valentina nehmen ihr Erbe und die Bedingungen an. In London angekommen, lernen sie bald ihren Nachbarn kennen, den Lebensgefährten Elspeths. Robert schreibt an einer Doktorarbeit über den benachbarten Highgate Friedhof und trauert verzweifelt um seine Geliebte.
Elspeth hat aber keineswegs ihre Wohnung verlassen, als sie starb. Als Geist wird sie langsam stärker. Sie beobachtet ihre Nichten und lernt, die Dinge in der Welt der Lebenden zu bewegen. Schließlich hinterlässt sie eine Nachricht im Staub und fortan kommunizieren Robert und die Mädchen regelmäßig mit Elspeth. Valentina kann sie sogar sehen. Der vermeintlich schwächere Zwilling entwickelt Selbstbewusstsein, den Wunsch, sich von Julia zu lösen und ihr eigenes Leben zu leben. Mit Elspeths Hilfe entwickelt Valentina einen verwegenen Plan auf Leben und Tod.
Das größte Gut des Menschen ist sein unsteter Geist.„ (Isaac Asimov)
Audrey Niffenegger hat nicht den Fehler begangen, einen zweiten Aufguss von “Die Frau des Zeitreisenden„ zu schreiben. Vielleicht ist das aber der Grund, warum viele Leser, wenn man den Kommentaren glauben darf, von ihrem zweiten Roman enttäuscht sind. Ähnlichkeiten finden sich allenfalls im Schreibstil und im Leitthema, das der menschlichen Beziehungen.
Hier geht es um vielerlei Abhängigkeiten: Die der Schwestern Edie und Elspeth und Julia und Valentina, der Liebespaare Elspeth und Robert, sowie des Zwangsneurotikers Martin und seiner Ehefrau Mareike. Diese starren emotionalen Bindungen bestimmen die Lebenswege der Protagonisten – zu einem guten oder weniger guten Ende.
Überzeichnete Charaktere prägen die Geschichte der “Zwillinge von Highgate„. Julia und Valentina sind aufeinander fixiert, haben mehrere College-Ausbildungen geschmissen und keinerlei Orientierung, was sie mit ihrem Leben anstellen wollen. Mit kindlichem Outfit und Gemüt gehen sie Hand in Hand, bis eben die weniger dominante Schwester mit drastischen Mitteln aufbegehrt. Die Frage, was die ebenso gleichen Schwestern der älteren Generation wirklich auseinander brachte, zieht sich als roter Faden durch die Handlung. Des Rätsels Lösung eröffnet neue Fragen, die nach Elspeths Motiven, in Gegenwart und Vergangenheit. Lebensnaher gezeichnet sind die Männer Martin und Robert, wenn auch der eine als Zwangsneurotiker und der andere mit einer latenten Todessehnsucht sicherlich keine Durchschnittstypen darstellen. Befremdlich erscheint, dass allein der allzeit zählende, schrubbende und sich abschottende Martin nachvollziehbar handelt. Oft wünscht man sich ein bisschen mehr Bodenhaftung zur Vernunft, vor allem für Roberts Entscheidungen und Aktionen. Dass die obskuren Handlungen zweier so extrem verzerrter Doppelgänger-Figuren auch noch von einer vertrauenerweckenden Person gestützt werden, überspannt den Bogen der Absurdität.
“Sünden und böse Geister scheuen das Licht„ (Schiller)
“Die Zwillinge von Highgate„ zeichnet, ähnlich wie schon “Die Frau des Zeitreisenden„, die klare, prägnante und zugleich bildgewaltige Sprache Audrey Niffeneggers aus, die die Übersetzerin Brigitte Jakobeit vorzüglich getroffen hat. Geschickt setzt die Autorin die Elemente des Schauerromans, wie Geistererscheinungen, den Highgate Friedhof oder das Todeskätzchen ein, um eine zunehmend düstere, morbide Atmosphäre zu kreieren – bis zum Höhepunkt des Geschehens. Dieser fällt nicht ganz so dramatisch aus, wie in “Die Frau des Zeitreisenden„, führt aber zu einem unerwarteten Ende. Insgesamt erzählt Audrey Niffenegger eine Geschichte die sich erneut mit der Liebe, hier allerdings auch intensiv mit ihren Abgründen beschäftigt. “Die Zwillinge von Highgate“ kommt als leicht zu lesendes und dennoch schwerwiegendes Werk daher.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Horror
S. Fischer
2009
432
Funtastik-Faktor: 80%