Das Mitternachtskleid – Terry Pratchett

Schuld, Sühne und Feegles

Das Mitternachtskleid © Goldmann
Das Mitternachtskleid © Goldmann

Tiffany Aching ist zurück. Sowohl zurück auf ihrem heimatlichen Kreideland, als auch im mittlerweile vierten Jugendroman in dieser Pratchett-Serie. Sie ist mittlerweile fünfzehn, Hexe (immer noch die einzige Hexe der Downs), sie hat der Elfenkönigin die Stirn geboten, den Winterkönig geküsst, sie hat den Respekt von Granny Weatherwax und die Unterstützung der Nac Mac Feegle. Was ihr fehlt ist vor allem eines: Schlaf.

Denn mit Magie hat ihre Arbeit wenig zu tun. Sie besteht vor allem darin, alten Frauen die Zehennägel zu schneiden, Schafe zu heilen, Sterbenden die Schmerzen zu nehmen, Schienenbeine zu richten, dafür zu sorgen, dass einige Dinge vergessen werden können – und andere nie vergessen werden. Denn die Aufgabe einer Hexe ist es nun einmal, für die einzustehen, die nicht für sich selbst einstehen können, für die da zu sein, für die sonst niemand da ist, und für jene zu sprechen, die nicht für sich selbst sprechen können. Viel Arbeit also für eine junge Frau.

Als der alte Baron stirbt und Tiffany dem „jungen Baron“ Roland, ihrem einzigen Freund, diese Nachricht überbringen muss, scheint sie schließlich an das Ende ihrer Kräfte zu kommen. Besonders, da Roland sich mit seiner Braut und deren Mutter in Ankh-Morpork aufhält – und das Gerücht aufkommt, Tiffany selbst wäre Schuld am Tod des Barons. Und plötzlich erhebt sich eine Welle von Misstrauen und Hass gegenüber Hexen, der sich Tiffany stellen muss. Denn sie erkennt, dass sie selbst mit dem Kuss des Winterkönigs ein altes Übel geweckt hat, das nur ein Ziel zu kennen scheint: Die Ausrottung aller Hexen.

Zwischen einer Beerdigung, einer Hochzeit, dem Misstrauen des einfachen Volkes und der schwelenden Hexenjagd muss sie einmal mehr über sich hinaus wachsen, wenn sie die Hexe der Downs bleiben will.

Schwere Themen leicht verpackt

Pratchett verpackt in seinen vierten Tiffany-Aching-Roman eine schier unglaubliche Fülle von Themen und Gedanken und webt aus ihnen eine seiner bislang besten Geschichten. Für eingefleischte Pratchett-Fans mag sie noch einen Schritt ungewohnter sein, als schon seine letzten Romane. Denn wieder geht er damit einen Schritt weiter weg von den gutmütig-albernen Fantasy-Parodien und seiner früheren, spaßlastigen Satiren zu einer noch tiefgründigeren Erzählung um Schuld und den Umgang damit. Das ist ernst. Sehr ernst sogar für ein Jugendbuch. Kaum ein anderer Jugendautor, zumal der komischen Fantasy, würde es wagen, sich gleich zu Beginn mit der Frage zu beschäftigen, wie eine Fünfzehnjährige damit umgehen soll, dass ein Vater seine minderjährige Tochter so verprügelt, das jene ihr ungeborenes Kind verliert. Dass die Dorfgemeinschaft kurz davor steht, den Mann zu lynchen. Dass der Mann versucht, sich selbst das Leben zu nehmen oder dass die in der Ehe misshandelte Frau ihre Opferrolle nicht verlassen kann.

Das ist selbst für Pratchett, der inzwischen ja schon nicht mehr nur als brillanter Komiker und Satiriker sondern auch als Humanist bekannt ist, ein verdammt schwerer Stoff. Und zudem ist es nur eine von zahlreichen Nebenhandlungen. Eifersucht, Einsamkeit, mangelhafte Bildung, die Nöte und Selbstfindungssorgen Heranwachsender und die Dummheit der Menschen allgemein (und des Mobs im Besonderen) thematisiert er hier genauso wie das dunkle Kapitel von Hexenhysterie und -verfolgung. All das erzählt er jedoch mit einer virtuosen Mischung aus Komik, sprachlicher Eleganz und einfach verständlicher Tiefgründigkeit, die ihm so schnell niemand nachmachen wird. Er schafft damit ein Jugendbuch, das sich trotz der sehr gewichtigen Themen zum größten Teil leicht und amüsant präsentiert. Und dennoch nachhaltig Eindruck hinterlässt. Denn obwohl der Roman einen positiven, versöhnlichen Eindruck hinterlässt, beschönigt er seine wichtigsten Themen nicht und bietet keine einfachen Auswege und Antworten.

Etwas schwierig vielleicht – er häuft einen ziemlich großen Berg von Pflichten und Verantwortungen auf seine noch immer nicht ganz erwachsene Protagonistin, die zwar an ihren Aufgaben wachsen darf – die aber dadurch streckenweise zu erwachsen und welterfahren wirkt. Selbst wenn man bedenkt, dass sie aus vor-industrieller Sicht tatsächlich mit 15 schon halbwegs erwachsen ist und bei den Besten (nämlich Granny Weatherwax und Nanny Ogg) gelernt hat. Doch wenn Tiffany eine abgebrühte Coolness an den Tag legt, die seiner beinharten Mitzwanzigerin und Todes-Enkelin Susan Sto Helit alle Ehre machen würde, dann hat Pratchett hier vielleicht ein klein wenig daneben gegriffen.

‚The Next Generation’ oder ‚ Many Happy Endings’

Es wird auch recht deutlich, was Pratchett hier bezweckt: Eine neue Generation Hexen zu schaffen, die den in die Jahre kommenden Zirkel Weatherwax / Ogg / Garlic von Lance beerbt. Wofür er nicht nur alle drei großen Damen der ersten Garde auffährt, sondern Tiffany gleich zwei neue Hexenkandidatinnen für die Downs an die Seite stellt.

Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass Pratchett hier versucht, möglichst vielen seiner bisherigen Figuren noch einen Auftritt zu verschaffen – neben den Hexen von Lancre begegnen wir Carrot, Angua, Sam Vimes, Wee Mad Arthur und anderen Figuren, auch aus seinen noch älteren, frühen Romanen (bis hin zur Erwähnung der sprechenden Ratten aus „The amazing Maurice…“). Eventuell ein wenig viel – es wirkt etwas, als versuche er, möglichst viele alte, offene Fäden noch schnell aufzunehmen, zu verknüpfen und zu einem Abschluss zu bringen. Und dazu möglichst viel Wissen und Aussage in diesem einen Roman unter zu bringen. Was in Hinblick auf seine Alzheimer-Erkrankung ein nachvollziehbares Bestreben ist, aber zum Teil ein wenig konstruiert wirkt. Dem entsprechend ist auch das Ende des Romans, gemessen am Spannungsaufbau, ein wenig zu – einfach. Und damit etwas enttäuschend.

Ein grandioser Roman mit Langzeitwirkung

Nichts desto trotz ist „I shall wear midnight“ auf jeden Fall eines seiner beeindruckenderen und durchaus ernsteren Bücher, in dem die Fantasy-Satire eher (handwerklich perfektes) Beiwerk und Mittel zum Zweck ist. In erster Linie ist es ein philosophisch wie soziologisch tiefgründiger und gehaltvoller Roman, der dank Pratchetts großartiger Erzählkunst eine Chance hat, sein Zielpublikum (also Heranwachsende) wirklich zum Nachdenken zu bewegen und vielleicht nachhaltig zu prägen. Auf jeden Fall tritt er damit erneut den Beweis an, dass Fantasy, selbst humoristische „Jugendfantasy“ ganz eindeutig ‚Literatur’ sein kann – in einer Qualität, von der sich mancher „ernsthafte Literat“ eine ordentliche Scheibe abschneiden sollte.

Diese Rezension von Tom Orgel bezieht sich auf die Originalausgabe „I Shall Wear Midnight“ und erschien bereits auf www.phantastik-couch.de. Sie wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht.

 

Das Mitternachtskleid
Scheibenwelt Jugendbuch Reihe
Terry Pratchett
Fantasy
Goldmann
2011
416

Funtastik-Faktor: 96%

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