Die Spiegelstadt – Justin Cronin

Zukunfts-Western über die neue Ordnung

Die Spiegelstadt - Justin Cronin © Goldmann
Die Spiegelstadt © Goldmann

„Die Spiegelstadt“ ist der Abschlussband einer dystopischen Trilogie über eine Menschheit am Abgrund, die von einem furchtbaren Virus heimgesucht wird. Das Virus bringt mörderische vampirartige Kreaturen hervor, die die Menschheit auslöschen wollen. Seit dem Erscheinen des zweiten Bandes, „Die Zwölf“, sind vier Jahre vergangen, und Cronin bringt die Leser und Leserinnen – wie bereits im Vorgänger – mit einem religiös angehauchten Prolog auf den Stand der Dinge.

Die Romanhandlung setzt einundzwanzig Jahre nach den Ereignissen aus „Die Zwölf“ ein. Wenige Menschen haben überlebt und versuchen nun in Kerrville, Republik Texas, eine neue Zivilisation aufzubauen.

Die Kolonie ist zu klein für die Anzahl an Bewohnern, weshalb eine Besiedelungspolitik für das weitere Umfeld entwickelt wird. Wir erfahren, was aus Alicia, Peter, Michael, Caleb, Sara und Lucius geworden ist. Von Amy hat man in den vergangenen Jahren nichts gehört, hält sie für tot. Manche Menschen haben Visionen und Träume, in denen sie vorkommt. Virals wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht mehr gesichtet.

Als ein menschenleeres Schiff aus dem norwegischen Bergen auftaucht, gibt es Anzeichen dafür, dass eine Virusmutation an anderen Orten der Welt Virals erzeugt hat, die vielleicht auf das amerikanische Festland gelangt sind. Deshalb wird das Schiff für einen Exodus Ausgewählter aus den USA nach Norwegen vorbereitet.

Rückschau auf „Der Übergang“ und „Die Zwölf“

In „Der Übergang“ führt uns Justin Cronin in seinen Alptraum vom Weltuntergang ein. „Die Zwölf“ erzählt davon, wie das Virus vom Militär benutzt wird, eine Gruppe durch die Rechtssprechung zu Todeskandidaten bestimmter Männer in Kampfmaschinen zu transformieren. Natürlich geht das Experiment schief, die Probanden werden zu mit Klauen und Krallen bewehrten, mit Haut wie einer Rüstung versehenen, sich vornehmlich von menschlichem Fleisch und Blut ernährenden Monstern, die ihrem Gefängnis entkommen und die Welt heimsuchen.

Vereinzelt finden sich Menschen, die sich den mächtigen Feinden stellen. Ihre messianische Leitfigur nennt sich Amy. Ist „Der Übergang“ noch ein sehr bodenständiger Horrorroman, wird es in „Die Zwölf“ religiös. Nicht nur ist die Zusammenfassung des Inhalts aus „Der Übergang“ im Ton biblisch gehalten, auch wird eine sehr spezielle Schöpfungsgeschichte erzählt.

„Der Übergang“ handelt von der Katastrophe und den Versuchen der Menschen, mit ihr umzugehen. Dabei wird der postapokalyptische Raum gestaltet und gezeigt, wie eine Gruppe Menschen ihr Überleben in einer Welt der Auflösung sichern will. Erzählt werden Ereignisse aus den Jahren 5 bis 1 v.V. (vor Virusbefall), dem Jahr Null sowie den Jahren 2 und 92 n.V. (nach Virusbefall). In Kapitel 67 werden die Probanden vorgestellt, die im Verlauf des Experiments zu den ursprünglichen Virals werden, gewisser Maßen zu den Aposteln des viralen Neubeginns.
„Die Zwölf“ beschreibt das totalitäre Regime in Iowa, das sich infolge der Ereignisse herausgebildet hat und mit den Zwölf kollaboriert, schließlich den Krieg zwischen Menschen und Virals. Im Wesentlichen werden die Ereignisse der Jahre Null, 79 n.V. und 97 n.V. erzählt und neue Charaktere eingeführt. Im Jahr 97 n.V. werden die Geschichten der Überlebenden aus dem ersten Band wiederaufgenommen und neue Handlungsstränge entwickelt.

n.V. – nach dem Virus

„Die Spiegelstadt“ wechselt wie die Vorgänger zwischen Erzählebenen, folgt der Logik einer Handlungsentwicklung, die dem Zeitgeist entsprechend in kurze Handlungssequenzen fragmentiert ist, die meist durch einen Cliffhanger unterbrochen werden, worauf es einen Szenenwechsel gibt, etc.
Gegenstand der Erzählung sind Ereignisse aus den Jahren 28 bis 3 v.V. (im Text direkt spezifiziert als 1989-2014), 98 bis 101 n.V., 122 n.V. und 343 n.V.
In allen drei Bänden erfolgt eine Bezugnahme auf das Jahr 1003 n.V., in dem in der Indo-Australischen Republik eine internationale Tagung zur Nordamerikanischen Quarantäne-Periode abgehalten wird, deren wichtigstes Material die als >Das Buch der Zwölfe< betitelten Schriften des Ersten Chronisten sind. Ein weiteres Dokument ist >Das Buch Sara<, das Tagebuch einer Figur aus der Haupthandlung, aus dem in der Trilogie mehrfach zitiert wird.
Der bald sechzig Seiten lange Epilog in „Die Spiegelstadt“ erzählt von der Tagung und enthält auch einige Wiedergaben von Dias aus dem Vortrag einer neuen Hauptfigur. Er bringt zudem noch eine mehr oder weniger interessante Wendung in die Erzählung, die letztlich zur Vollendung eines Entwicklungskreislaufs führt.

„Die Spiegelstadt“ nimmt sich viel Zeit für Beschreibungen und mutet den Lesern auf den ersten Seiten einiges zu: eine nachvollziehbar beschriebene Totgeburt, eine Vergewaltigung und Missbrauch. So werden die Leser schon frühzeitig verankert, und insbesondere mit dem Motiv des Missbrauchs wird der Einstieg in die Trilogie wieder aufgegriffen. Manche Dinge irritieren etwas, darunter die Fähigkeit tauber Personen, aus sich heraus eine eigene Zeichensprache zu entwickeln, in der sie sich über Tolstois „Krieg und Frieden“ austauschen können.
Der Ton der Erzählung ist ein wenig unausgeglichen. Mal erzählt Cronin eine schnelle und zielführende Thriller- oder Horrorgeschichte, dann wird er sentimental, quasireligiös, bisweilen esoterisch oder auch kitschig. Betrachtet man den Erfolg der Trilogie, scheint Cronin aber alles richtig gemacht zu haben.
Die Architektur der Trilogie ist beeindruckend. Cronin hat die Bücher formal und inhaltlich geschickt miteinander verknüpft, streut gelegentlich früh Hinweise auf spätere Ereignisse, arbeitet mit Komplementärszenen, beginnt Konstruktionen in „Der Übergang“, die er in den folgenden Büchern vollendet.

Cronin bringt die Handlung über die Charakterentwicklung voran. In der Erzählung, die nahezu ausschließlich in der dritten Person Singular vorgetragen wird, meldet sich zwischendurch als Ich-Erzähler Zero zu Wort, Tim Fanning, Patient Null. Im zweiten Teil von „Die Spiegelstadt“, >Der Liebende< überschrieben und mit einem Zitat aus Miltons „Das verlorene Paradies“ eingeleitet, erzählt Zero Alicia seine Geschichte als Tim Fanning, beginnend mit seiner Jugend. Hier wird deutlich, wie ein überforderter Mensch zu einem tragischen Monster werden kann. Zero ist einer der am besten gestalteten Charaktere der Trilogie, psychologisch komplex, vielschichtig in seinen Motivationen, Handlungen und seinem Blick auf die Welt. Dieser Teil des Buches steht beinahe für sich und kann aufgrund seines erheblichen Umfangs als eine eigenständige Novelle gelesen werden – die Erinnerungen eines 150 Jahre alten Vampirs an seine Schul- und Universitätszeit. Durch diesen Text wird Zero zum tiefsten und vielleicht auch wichtigsten Charakter der gesamten Trilogie. Bereits im 9. Kapitel von „Der Übergang“ gibt es einen Vorhall auf diese Ich-Erzählung: „Ich hieß…Fanning.“

Der Wilde Westen kehrt zurück

„Die Spiegelstadt“ behandelt die aus der Katastrophe entstandene neue Gesellschaft und ihre Ordnung. Er ist neben der Einlage der Campus-Novelle ein Zukunfts-Western über die Entstehung des neuen Amerikas, die Herausbildung einer Wirtschaftsordnung, die auf zwei Pfeilern ruht, der offiziellen Ökonomie und dem Schwarzmarkt, bedingt durch Machtkämpfe und extreme Güterverknappung. Sogar die Virals und Dopeys leiden unter der schlechten Versorgungslage. Der Western äußert sich in den Settings, die die amerikanische Frontier nachbilden. Es gibt Pferde, heruntergekommene Kaffs, Prostituierte, Glücksspiel, Whiskey und Schießereien in Wild-West-Architekturen. Vor dem Finale kommt es noch zu der Auswanderungsaktivität mit einem Schiff Richtung Europa.

Diese Rezension hat Gastrezensentin Almut Oetjen geschrieben – Vielen Dank! :-)

Die Spiegelstadt
Passage-Trilogie Band 3
Justin Cronin
Horror
Goldmann Verlag
Oktober 2016
993

Funtastik-Faktor: 80

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