Das Gift – Samanta Schweblin

Ein Narrativ für das sickernde Grauen

Das Gift © Suhrkamp/Insel
Das Gift © Suhrkamp/Insel

Seit zehn Jahren scheint ein Fluch über dem Dorf zu liegen, dessen Bewohner als Sojapflanzer arbeiten. Erste Anzeichen für eine unbestimmte Bedrohung waren tote Tiere. Der Geruch und der Geschmack des Trinkwassers veränderten sich. Bewohner werden vergiftet, Kinder kommen vergiftet zur Welt, haben Missbildungen, ihnen fehlen Wimpern und Augenbrauen, ihre Haut ist rot und schuppig. Die Menschen sind auf sich alleine gestellt, Ärzte gibt es in der Region nicht, die Regierung kümmert sich nicht um die Menschen.
Vor sechs Jahren wurde David krank. Seine Mutter Clara ging aus Verzweiflung mit ihm zu einer Frau mit übernatürlicher Begabung, die eine Vergiftung feststellte. Der Tod des Jungen wurde durch Transmigration verhindert: Davids Geist wechselte in einen anderen Körper, die Verteilung des Giftes auf zwei Organismen schwächte die Wirkung ab. Nach der Prozedur war David verändert.

Erinnerungen an die Gegenwart

Zwei Menschen sprechen miteinander, man weiß aber zu Beginn nicht, wer. Dann zeigt sich, dass es ein Dialog zwischen Amanda und David ist, ein Dialog, der den gesamten Text durchläuft und in dem Amanda sich an etwas erinnern soll. In diesen äußeren Dialog eingebettet ist ein weiterer Dialogkomplex, bestehend überwiegend aus Gesprächen zwischen zwei Nachbarinnen, Amanda und Carla, über ihren Alltag und ihre Kinder, Amandas Tochter Nina und Carlas Sohn David. Es sind detailfreudige Gespräche über zumeist uninteressante Dinge.
In den Erinnerungen Amandas soll etwas verborgen sein, was David für wichtig hält. Offenbar versuchen beide, grauenhafte Ereignisse und deren Ausgangspunkt zu rekonstruieren. Wie beiläufig eingestreut, werden ein paar Informationen geliefert, die in der Leserin eine Ahnung aufkommen lassen, um was es gehen könnte.

Zitat: „Ich denke an dich oder an den anderen David, den ersten David mit dem fehlenden Finger.“

Die argentinische Autorin Samanta Schweblin hat schmale Bände mit Short Stories geschrieben, unter dem Titel „Die Wahrheit über die Zukunft“ hat Suhrkamp dreizehn dieser Stories veröffentlicht. Sie sind sehr kurz, haben einen Umfang um die zwei bis fünfzehn Seiten. Kurz ist mit 118 Seiten Text auch Schweblins erster Roman: „Das Gift“. Ihr Stil ist geprägt durch Klarheit und einfache, knappe Sätze. Überflüssige Wörter sucht man bei ihr vergeblich. Innerhalb des Dialoges, der „Das Gift“ bestimmt, gibt es häufiger Fragen nach und Hinweise auf mögliche überflüssige Wörter oder Inhalte.
Die Ereignisse sind zeitlich unbestimmt, die Figuren gerade soweit entwickelt, dass man etwas mit ihnen anfangen kann, wenige Ortsangaben helfen dabei, zumindest räumliche Beziehungen herzustellen.
Schweblin ist Filmwissenschaftlerin. Ihr Dialog ist so geschrieben, dass Bilder im Kopf der Leserin entstehen.
Die Welt in „Das Gift“ folgt anderen Regeln als der normale Alltag, die Protagonisten werden mit merkwürdigen Situationen konfrontiert, die sie nicht verstehen. Die sich erinnernde Amanda erscheint als eine Schauspielerin, die nach Anweisungen des Regisseurs David handelt.

Zitat: „Ich gebe dir Bescheid, wenn es wichtig ist, Details zu erfahren.“

David und Amanda versuchen über extreme Detailrekonstruktion, ein wichtiges Ereignis und dessen zeitlichen Beginn zu recherchieren. Immer wieder stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen der verbleibenden Zeit und der Wichtigkeit von Beobachtungen und Details.
Der Dialog vermittelt diffuse Ereignisse und karge Informationen, die die Protagonisten in erzählender Rede in einen inhaltlichen Zusammenhang von Abläufen und Kausalitäten bringen müssen. Es geht vor allem um einen Sinnzusammenhang, in den die Geschehnisse einsortiert werden. Eine Abfolge schlimmer Ereignisse soll zu einer Erfahrungsgeschichte werden. David und Amanda müssen folglich, wie auch wir, ein Narrativ konstruieren.

Die Ausführungen zum Inhalt könnten ergänzt werden um im Text nicht ausgesprochene Informationen: Die Sojapflanzer bewirtschaften ihr Feld vermutlich, wie in Lateinamerika sehr verbreitet, für ein international tätiges Agrarunternehmen, vielleicht Monsanto. Die im Text angesprochenen Fässer sind die Giftbehälter, aus denen das Grauen in die Böden und das Trinkwasser, die Natur und ihre Lebewesen sickert.

Schweblin entwickelt ein erzählerisches Gewebe aus der realen und der imaginären Welt, etwas Übernatürliches durchzieht den Dialog wie Nebelschwaden.

Diese Rezension hat Gastrezensentin Almut Oetjen geschrieben – Vielen Dank!

Das Gift
Samanta Schweblin
Phantastik-Plus, Horror
Suhrkamp/Insel
August 2015
127

Funtastik-Faktor: 77

Schreibe einen Kommentar