Unsichtbar sein, sichtbar werden – bei Bedarf in verschiedenen Erscheinungen
Helen Oyeyemis siebter Roman „Peaces“ spielt nahezu ausschließlich in einem Zug mit dem Namen The Lucky Day. Dieser weist einige Merkwürdigkeiten auf und ist, je nach Perspektive, erfrischend anders oder beunruhigend. Das eine oder andere Naturgesetz scheint seine Gültigkeit verloren zu haben, aber der Zug macht einen sehr strukturierten Eindruck.
Die Tickets und Wagen haben keine Nummern. Sie sind durch Symbole bezeichnet, wie einen Dolch, eine Hummel und ein Spinnrad. Jeder Wagen ist ein Raum für sich: eine Sauna, eine Porträtgalerie, ein Postabteil, ein verglastes Gewächshaus, ein Gefängnis.
Von der mobilen Bühne der Geschichte zum Personal
Otto und Xavier Shin, ein Mesmerist und ein Ghostwriter, bekommen von Xaviers fast 80jähriger schlafloser Tante Shin Do Yeon eine Reise in The Lucky Day geschenkt – gewissermaßen Flitterwochen für Nicht-Flitterwöchner, wie Otto es einmal beschreibt. Sie werden begleitet von Ottos Manguste Árpád Montague XXX, der mit eigenem Koffer reist. Árpád, dessen Ahnenreihe rund 200 Jahre zählt, ist mit von der Partie, weil Mangusten vor Erreichen ihrer Lebensmitte gereist sein sollen, damit sie nicht engstirnig werden.
Der Zug ist nahezu leer, in ihm befinden sich scheinbar nur drei Frauen und ein gewalttätiger, kaum wahrgenommener Mann. Zugführerin Allegra Yu scheint Mitbesitzerin von The Lucky Day zu sein. Von Ava Kapoor heißt es, sie habe den Zug noch nie verlassen. Vielleicht ist sie auch eine Gefangene. Als Otto und Xavier sie kurz sehen, zeigt sie ein Zeichen, das „HELLO“ oder „HELP“ bedeuten kann. Bald stellt sich die Frage, ob auch Otto und Xavier Gefangene sein könnten.
Mystery Train
Jim Jarmush hat 1989 den Episodenfilm „Mystery Train“ veröffentlicht. Die letzte Filmepisode ist Lost in Space, was gut die Situation der Figuren in The Lucky Day beschreibt, der ein Mystery Train ist. Die Reise wird für das Paar immer eigenartiger. Warum hat die Tante ihnen die Reise geschenkt? Sind sie tatsächlich nur Zuggäste? Wohin fahren sie? Wer ist Ava Kapoor? Und warum zeigt ein Bild im Porträtwagen ein Gesicht, das den Reisenden nicht nur bekannt vorkommt, sondern auch den Blick und die Blickrichtung verändern kann? Es gibt noch einige weitere Fragen und Unklarheiten. Manche werden im Verlauf der Zugfahrt geklärt, andere werfen neue Fragen auf.
In das ganze Mysterium muss sich viel einordnen lassen, nicht nur ein Set Boxer Shorts, die mit den Wochentagen versehen sind. Im Postwagen liegen Briefe. Einen Teil dieser Briefe haben frühere Reisende an den Zug geschrieben. Gespräche und Erinnerungen liefern weitere Informationen.
Zitat:
„PS – Don’t write back. I’ve heard you do that sometimes, but you can’t try that with me. I know trains can’t write. Nor read, for that matter.“
Geschichten erzählen
Es werden von Anfang an Geschichten erzählt, Zuggeschichten, die Geschichte einer Frau, die zwei Mordversuche zu verantworten hat und zum Ende hin eine mögliche Nichte im engen Personalnetz wird, um nur ein paar zu nennen. Als Otto und Xavier den Zug besteigen, lesen wir die erste kleine Geschichte. Sie handelt von Árpád, der eine wichtige Rolle spielt oder auch nicht und vielleicht seine große Liebe kennenlernt, Avas Manguste Chela.
Oyeyemi, die gelegentlich dem magischen Realismus zugeordnet wird, gestaltet ein Netz aus verwirrten Identitäten und Traumwelten, in das vielfältige Verweise, gerne aus Musik und Literatur, hineinwirken. Die Realität ist genauso fragmentiert und damit schwer zugänglich wie ihre Wahrnehmung durch die Figuren.
Otto und Xavier verhalten sich weitgehend wie im Alltag, führen Gespräche, plappern und lästern. Ihre Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse unterscheiden sich in Details. Alle Informationen aus der Vergangenheit besitzen das Potenzial, zur Beantwortung von Fragen aus der Gegenwart beizutragen.
Ohne Erwartungen in alle Richtungen offen sein
Während der Zug sich bewegt, bewegen sich die Protagonisten erkundend in ihm, einer in Fahrtrichtung, der andere in die entgegengesetzte Richtung. Die Reisenden scheinen sich im Zug in einer mobilen Fantasy-Sphäre zu befinden, die auf Schienen ihre äußere Realität durchmisst.
Zitat:
„You have a better time when you’re not expecting anything real“
Je weiter es im Roman wie im Zug vorangeht, desto höher der Grad der Verwirrung. Für manche Leser*innen mag dies ein Anlass zur Frustration sein. Wer bis zum Schluss durchhält, wird vielleicht, aber nur vielleicht, belohnt.
Der selbsterklärte Hypnotiseur Otto ist der unzuverlässige Ich-Erzähler. Er ist nicht sachlich, hat Angst und ist irritiert. Ist der Mann, der mit einem Fangnetz hinter Chela herjagt, den nur Otto sieht, real oder eine Einbildung oder Finte Ottos? Und wer ist dieser Yuri, der plötzlich bei der Tante auftaucht und dem früher wie später Bedeutung zukommt, unter verschiedenen Namen und in wechselnder Gestalt?
Es geht darum, wie Menschen einander wahrnehmen und verstehen. Hier sind neben der Haupthandlung besonders die vier von Ava Kapoor, Allegra Yu, Laura De Souza und Zeinab Rashid verfassten Berichte oder Briefe von Bedeutung, die Xavier und Otto lesen, bevor sie je einen eigenen abliefern. Diese Berichte zeigen, wie die Figuren miteinander verbunden sind. Im Zentrum dieser Texte steht eine Person namens Přemysl Stojaspal. Ava erzählt Otto eine fantastische Geschichte über Přemysl, dessen Vater Karel, ein Musikstück und die Nicht-Sichtbarkeit Přemysls, der eine Verbindung herstellt zwischen Personen, Gegenständen und Ereignissen, die zu erkunden ist.
Fazit
„Peaces“ spielt mit der Form, wozu vielleicht auch das abrupte Ende gehört. Der Zug fährt zwar auf dem Rückweg wieder in den Ausgangsbahnhof ein. Nach Tagen steht dort noch der von Otto und Xavier vergessene Koffer, auf dem nun die Tante sitzt und sie begrüßt. Die Geschichte ist zugleich tiefgründig und lustig.
Danke an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischsprachigen Originals
Phantastik Plus/ New Weird
Faber & Faber
November 2021
Buch
256
Lisa Pifher
83