Report on Probability A – Brian Aldiss

Beobachter und Beobachtete und Beobachter, die Beobachter beobachten

Report on Probability A - Brian Aldiss © HarperVoyager, schwarzer Hintergrund, Schrift in weiß und orange
Report on Probability A © HarperVoyager

Stellen wir uns ein großes Grundstück vor, auf dem ein Haus und Nebengebäude stehen. In dem Haus leben Mr. und Mrs. Mary. Sie und das Haus werden von drei Personen aus drei verschiedenen Perspektiven beobachtet. Die drei Beobachter sind mit G, S und C bezeichnet. Sie sind frühere Angestellte der Marys. G war der Gärtner, S der Sekretär und C der Chauffeur.

Mit diesen drei Personen beginnt ein Kontinuum von Beobachtungsinstanzen, das sich immer weiter vom Haus der Marys entfernt und in eine Parallelwelt mündet, in der es ebenfalls eine Beobachtungsinstanz gibt.

Die Beobachtungen werden in einem Bericht detailliert beschrieben. Die beiden Hauptfiguren in der Parallelwelt sind Domoladossa und Midlakemela. Sie werten den Bericht aus. Darüber hinaus beobachten beide mithilfe einer fortschrittlichen Technologie das Ehepaar und das Kontinuum der Beobachter. Aber auch Domoladossa und Midlakemela werden beobachtet. Die letzte beobachtende Instanz sind die Leser*innen des Romans.

Nähe zum Noveau Roman

Der französische Noveau Roman steht für Texte, die von den Lesern und Leserinnen nicht konsumiert, sondern produziert werden sollen. Aus emotionsarmen und repetitiven Beschreibungen ist die Erzählung zu rekonstruieren. Dieser analytischen Rekonstruktion folgt der Sinn über Interpretation, oder er kommt den Lesern und Leserinnen entgegen. Ein gutes Beispiel für diesen Texttypus ist Alain Robbe-Grillets „Die Jalousie oder die Eifersucht“ (1957).

Ein ähnliches Vorgehen gibt es in „Report on Probability A“. Brian Aldiss entwickelt eine Art Topographie der Oberfläche, in der detailintensiv beschrieben wird, ohne Bedeutung beizumessen. Allenfalls ein paar Kommentierungen sind zugelassen. So, wenn Domoladossa glaubt, Mrs. Mary sei fröhlich, weil sie singt, dann aber einräumt, mit dieser Einschätzung treibe er die Interpretation zu weit.

Die beobachteten Menschen erfahren keine Charakterisierung. Die Beobachter haben eine stark reduzierte Perspektive auf das Beobachtete. Sie selbst sind zwar als Instanzen vorhanden, aber in konsequenter Ausblendung als Individuen. Aldiss zeigt, wie Beobachtungen Dinge und deren Beziehungsgefüge ständig neu entstehen lassen.

Eine Flasche Milch gefällig?

Die Beobachter können nur das Sichtbare wahrnehmen. Am Beispiel einer Flasche Milch, die in der Küche steht, adressiert Aldiss dieses Problem. Äußere Eigenschaften der beobachteten Flasche werden beschrieben. Es fehlen wichtige Angaben, wie Temperatur, Inhaltsstoffe, Qualität und Alter (sauer?). Trotzdem könnte sich der Eindruck einstellen, die Flasche Milch zu „kennen“, zu verstehen, was sie ist. Streng genommen ist unklar, ob der Begriff Milch in allen Kontinuen die gleiche Bedeutung hat.

Übertragen auf die beobachteten Marys stellt sich die Frage mit Blick auf heutige Diskurse, wann, falls dies überhaupt möglich ist, sie zu gläsernen Personen werden. Gleich, wie viele Informationen vorliegen, aus ihnen lässt sich immer nur ein Modell der Flasche Milch oder der Marys bilden. Dies mag mit zunehmender Informationsmenge besser werden und damit bessere Einsichten ermöglichen. Aber es ist nie deckungsgleich mit dem Beobachteten.

Woher kommt die Flasche? Der Beobachter hat sie irgendwann im Blickfeld, weiß nicht, wer sie gebracht hat. Die Umgebung beobachteter Objekte entzieht sich weitgehend der Wahrnehmung.

Im Ergebnis folgt die banale Beschreibung von Banalitäten ohne Tiefendimension, die auch gar nicht möglich ist. Die Beobachtung unbeweglicher Dinge beim unbewegten herumstehen (Milchflasche) oder herumhängen (ein Gemälde) in dem Bemühen, dem Beobachteten Sinn zu geben, was auch nicht möglich ist, weil immer Informationen fehlen.

Minutiöse Beschreibung von Nicht-Geschehen

Der Bericht lässt viele Fragen offen, beispielsweise Parameter, die nicht aus der Distanz beobachtbar sind: „‘The report is all very meticulous, but there’s much it leaves out,‘ Domoladossa said. ‚Temperatures, inside and outside, for instance‘.“ (S.19) Oder die Frage, ob die Marys überhaupt Menschen sind, weil sie den Beobachtungen gemäß ja nur wie Menschen aussehen. „Probability A is an entirely new continuum – we can take nothing for granted. The laws of our universe may not obtain there.“ (S.19) Sicher dagegen scheint Domoladossa und Midlakemela ihr eigenes Kontinuum zu sein, weshalb sie es „Certainty X“ nennen.

Woraus besteht der Bericht?

Am Anfang stehen die kursiv gesetzten Worte „The Report begins“. Besteht der Bericht aus dem, was die drei Männer auf dem Grundstück beobachten, ergänzt durch weitere Informationen? Zwar ist der erste Teil überschrieben mit „G Who Waits“. Aber die Beschreibungen in der dritten Person Singular haben auch G zum Inhalt. Oder besteht er aus den Beobachtungen aller Instanzen? Das Kontinuum, in dem sich die Marys befinden, wird einmal Probabilität A genannt. Was dieses Kontinuum genau ist, bleibt offen.

Informationen darüber, welche Funktion Mrs. Mary tatsächlich haben könnte, liefert Aldiss gegen Ende seines Einblicks in die Schwierigkeiten oder, je nach Begriffsbestimmung, die Unmöglichkeit des Verstehens.

Abschließend möchte ich noch erwähnen, dass ein Gemälde eine wichtige Rolle spielt und dass es in einer Welt so eigenartige funktionstragende Figuren gibt wie: The Head of CK5, the Wandering Virgin, the Suppressor of the Archives, the Squire of Reason, the Impersonator, the Image Motivator und the Impaler of Distortions.

Die deutsche Fassung des Romans gab es einmal im Handel unter dem Titel: „Report über Probabilität A“ (übersetzt von Karl H. Kosmehl, Ullstein 1976).

Fazit

Brian Aldiss hat mit „Report on Probability A“ einen Roman geschrieben, der einer früheren Kategorisierung folgend als Anti-Roman bezeichnet werden könnte. Allerdings weiß ich nicht wirklich, was das sein soll. Deswegen als Fazit: Je nachdem von wo aus wir uns diesem Buch annähern, ist es hervorragend oder grauenhaft, oder, zusammengefasst: auf hochinteressante Weise langweilig.

Heute jedoch, anders als zur Zeit seines Erscheinens, lässt sich der Roman lesen als ein früher Diskursbeitrag zum Themenfeld „Suchmaschinen, Datenbergwerke und Erschließung eines Menschen über das Sammeln von Informationen bei gleichzeitiger Reduktion auf ein im besten Fall zweckorientiertes Modell“. Tatsächlich erscheinen den Beobachtern in der Parallelwelt die Informationen als zum Verständnis von irgendetwas immer zu wenig und mitunter als etwas, das nur auf sich selbst verweist.

Danke an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischsprachigen Originals

Report on Probability A
The Brian Aldiss Collection
Brian Aldiss
Phantastik Plus
HarperVoyager
2015 (Erstausgabe: Faber and Faber 1968)
Buch
148
HarperCollinsPublishers
82

Schreibe einen Kommentar