Die Chroniken von Rotkäppchen: Allein im tiefen, tiefen Wald (Dunkle Chroniken 6) – Christina Henry

Allein und stark in einer Albtraum-Welt

Die Chroniken von Rotkäppchen-Allein im tiefen tiefen Wald - Christina Henry ©Penhaligon Verlag, weisser Hintergrund, Scherenschnitt: große, rote Gestalt mit Krallen, Scherenschnitt: weißes Mädchen mit Axt, weisse Schrift, Buchschnitt mit Blutflecken
Die Chroniken von Rotkäppchen-Allein im tiefen tiefen Wald ©Penhaligon

Wir kennen die Mähr um das kleine Mädchen in seiner roten Kaputzenrobe, das allein durch den tiefen Wald zum Haus seiner Großmutter aufbricht aus dem Grimm´schen Märchen-Sammlungen.

Dem Titel „Allein im tiefen, tiefen Wald – Die Chroniken von Rotkäppchen“ nach, legt Christina Henry mit vorliegendem Roman eine Neuinterpretation dieses Stoffes auf. Ähnlich wie in ihren Büchern um Alice, Peter Pan und der Meerjungfrau. Doch inwieweit stimmt das?

Nun, wir begleiten ein Mädchen mit roten Haaren in einem ebenfalls roten Hoodie, das sich durch den Wald in Richtung des Hauses ihrer Oma aufmacht. So weit stimmt die Geschichte mit dem Märchen-Vorbild „Rotkäppchen“ überein. Der Rest aber, und dies sollte man wissen, hat mit der Vorlage der Gebrüder aus Hanau nichts zu tun. Ein wenig verwirrend, ja irreführend ist der Titel daher schon. Doch wenden wir uns zunächst dem Inhalt zu.

Vor einem Vierteljahr begann, was unsere Red, die eigentlich Cordelia heisst, als die KRISE bezeichnet. Ein Virus greift um sich. Die Krankheit beginnt mit einem Husten, kurz darauf sind die Infizierten tot.

Rassismus, Ableismus und vor allem Überlebenskampf

Red stammt aus einem guten Elternhaus. Die dunkelhäutige Mutter lehrte über Shakespeare am örtlichen Elitecollege, der hellhäutige Vater kümmerte sich um Red und ihren älteren Bruder. Das Mädchen beschäftigte sich seit der Jugend mit Themen wie Apokalypse, Zombiewahn und dem Überlebenskampf nach dem Zusammenbruch der Zivilisation in Büchern und im TV. Anders als ihre Familie ahnt sie gleich, was die Stunde geschlagen hat. Die Überlebenden werden, da ist sie sich sicher, ihre zivilisatorische Tünche schnell abstreifen. Das Recht des Brutaleren, des Gewalttätigeren gilt, die von der Seuche verschonten werden sich in Täter und Opfer aufteilen.

An den alltäglichen Rassismus von idiotischen Rednecks, den sie verständlicherweise mehr als leid ist, hat sie sich irgendwie gewöhnt. Hinzu kommt, dass unsere Red nur ein Bein hat, was ebenfalls Anlass für verletzende Bemerkungen ist. Seitdem sich ein Autofahrer anstatt auf die Straße auf sein Handy konzentrierte, trägt sie eine stählerne Prothese.

Dass die gemeinsame Flucht der vierköpfigen Familie gleich zu Beginn scheiterte, ahnen wir Lesende bereits früh. Denn Red berichtet uns gleich zu Beginn des Romans davon, wie es ist, allein unterwegs zu sein. Verfolgt von Häschern aller Couleur, schlägt sie sich durch. Dank der Survival-Trainings aus ihren Dystopien und Serien kommt sie erstaunlich gut durch eine Welt, in der Gesetze obsolet, Mitgefühl verschwunden und Zusammenhalt vergessen wurde. Ihr Camping-Beil dient als Waffe, um ihre Verfolger auszuschalten und endgültig hinter sich zu lassen. Schwer traumatisiert, wie sie ist, sucht sie ihren Weg durch eine Welt, die mehr einer Hölle gleicht als der Umgebung, die sie aus ihrem früheren Leben kennt.

Wenig Bezug zum Grimm’schen Märchen, dafür mehr zur aktuellen Situation

Der Penhaligon- Verlag hat sich für die Titel von Christina Henry einige Besonderheiten einfallen lassen. Sie erscheinen im Hardcover, mit einem Buchschnitt mit Motiven passend zum Inhalt (vorliegend Blutflecke) versehen und einem Buchdeckel in geprägter Spotlackierung. Die Bücher fallen Interessierten sofort uns Auge. Auch die Übersetzung(en) von Sigrun Zühlke lesen sich angenehm flüssig, wobei die Verfasserin sich mit ihren Werken eindeutig an ein erwachsenes Publikum richtet.

Vorliegender Roman ist unschwer als Dystopie, als Doomsday-Roman einzuordnen. Eine Pandemie sucht die Welt heim. Im Verlauf der Geschichte gibt es Hinweise darauf, dass etwas Fremdes, etwas Künstliches die Heimsuchung ausgelöst haben könnte. Letztlich ist dies aber nicht wirklich wichtig. Denn es steht unsere Red und ihr Kampf ums Überleben ganz im Zentrum des Geschehens.

Geschickt stellt die Autorin uns ihre Protagonistin gleich zu Beginn als toughe Frau vor, die ihr Wohl in die eigenen Hände nimmt und allen Gefahren mutig und offensiv begegnet. Den Mitleidsbonus wegen ihres fehlenden Beins können wir uns ebenso wie ihre Verfolger und Jäger sparen. Zeigt sie den Unholden doch immer wieder, dass sie sich ihrer Haut zu erwehren weiß.

Gelungene Charakterzeichnung

Unterschwellig kommt jedoch, zum Beispiel in Selbstgesprächen, die innere Verlorenheit Reds durch den Verlust ihrer Familie und aller Sicherheiten überzeugend zum Ausdruck. Da wirkt nichts aufgesetzt, sondern in sich glaubwürdig, wenn sie mit sich hadert. Sich aber auch zwingt, nicht zu viel zu reflektieren, um den Mut und ihre Antriebskraft nicht zu verlieren.

Ihre Hautfarbe und die damit verbundenen Anfeindungen werden erst nach und nach in den Plot integriert, sind letztlich auch nicht entscheidend. Im Fokus steht eine intelligente junge Frau – Red ist Zwanzig – die plötzlich allein in einer Welt aufwacht, die jegliche Sicherheit verloren hat. Ich hätte mir gewünscht, dass Henry hier noch ein wenig deutlicher auf die innere Verzweiflung Reds eingegangen wäre. Anstatt sich doch sehr auf die Wanderung abseits der Highways und der Hetzjagd auf Red zu konzentrieren. Sehr gelungen ist die Beschreibung, wie Red sich im Verlauf der Reise und durch die erlebten und erlittenen Begegnungen innerlich wandelt.

Dabei ist sie beileibe keine einfache Erzählerin. Sie kommt vorlaut, schnippisch, besserwisserisch, ja arrogant herüber. Gleichzeitig ist sie innerlich sehr einsam und harmoniebedürftig. Vieles davon ist Ausdruck ihrer inneren Verletzlichkeit. Und der Tatsache geschuldet, dass sie schon in jungen Jahren Verantwortung für ihre alternden Eltern und den Tunichtgut von Bruder übernehmen musste.

Im Mittelteil des Romans hätte diesem eine moderate Straffung gutgetan, ansonsten wurde ich spannend und kurzweilig unterhalten.

Fazit

Letztlich bleibt bei mir als Eindruck zurück, dass Henry ein wenig aus dem gewohnten Muster ausbrechen wollte, indem sie uns eine Dystopie anbietet. Dank Covid-19 hat diese mittlerweile eine tragische Aktualität gewonnen. Darin stellt sie uns eine starke Frau vor, die es nie leicht hatte, die sich aber dank ihrer Stärken auch in dieser gefährlichen Welt behauptet.

Carsten Kuhr

Die Chroniken von Rotkäppchen: Allein im tiefen, tiefen Wald
Die Dunklen Chroniken, Band 6
Christina Henry, Übersetzung: Sigrun Zühlke
Fantasy (Horror)
Penhaligon Verlag
Februar 2022
Buch
381
Julia Lloyd
79

Ein Gedanke zu „Die Chroniken von Rotkäppchen: Allein im tiefen, tiefen Wald (Dunkle Chroniken 6) – Christina Henry

Schreibe einen Kommentar