Looking Glass – Christina Henry

Märchenstoffe – neu imaginiert

Looking Glass - Christina Henry (The Chronicles of Alice) ©Ace/Pixabay
Looking Glass ©Ace/Pixabay

Christina Henry begann im Jahr 2015 mit „Alice“ (Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“, 2020) eine Reihe von Büchern, in denen sie Märchen neu imaginiert. Sie erzählt die Vorlagen nicht nach, sondern verwendet Figuren und Motive für eigene düstere Stoffe. So bediente sie sich bei Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“, oder sie ließ sich, in anderen Worten, davon inspirieren, um mit Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“ und Die Chroniken von Alice – Die schwarze Königin“ („Red Queen“) zwei sehr finstere Horrorromane über Alice und Hatcher, die Überlebenden grauenhafter Geschehnisse, zu schreiben. Wie Henrys Alice-Romane ist auch die Novellensammlung „Looking Glass“ inspiriert durch Carrolls Alice-Texte und das Computerspiel „Alice: Madness Returns“ aus dem Jahr 2011.

Lovely Creature

Die junge Elizabeth lebt mit ihrer Familie in New City. Nach einem Großbrand in der psychiatrischen Klinik hört Elizabeth zum ersten Mal den Namen ihrer älteren Schwester Alice, die sie nie gekannt hat. Alice sei Patientin in der Psychiatrie gewesen und bei dem Brand umgekommen. Bedienstete in ihrem Haushalt und Stimmen in ihrem Kopf erzählen Elizabeth, sie sei Alice ähnlich, aber auch, dass sie über Magie verfüge. Diese Fähigkeit bringt sie in eine gefährliche Situation, als sie mehr über Alice herausfinden will.

Elizabeth weiß, dass die Welt kein schöner Ort ist. Es gibt viele unangenehme Gestalten, wie Caterpillar, Cheshire und Rabbit, die es auf kleine Mädchen abgesehen haben. Ebenso wie der Familienfreund Kinley, bei dessen häufigen Besuchen sie gegen ihren Willen auf seinem Schoß sitzen muss. Ihr Vater hat für ihren Unwillen wenig Verständnis. Henry thematisiert hier die eher am Rande geführte Diskussion, ob Lewis Carroll pädophile oder pädosexuelle Neigungen gehabt haben könnte. Henry hat in das Personal der Erzählung einen Mann namens Dodgson aufgenommen und verweist so auf den Klarnamen Carrolls, Charles Lutwidge Dodgson.

Girl in Amber

Die zweite Geschichte beginnt damit, dass Alice von ihrer kleinen Schwester träumt. Gemeinsam mit Hatcher sucht sie nach einem Platz, an dem sie heimisch werden können. Während ein Sturm aufzieht und Hatcher nach einer Unterkunft für den bevorstehenden Winter Ausschau hält, findet Alice Schutz in einem leerstehenden Haus. Dort hat sie ein grauenhaftes Erlebnis und Visionen, bekommt es mit Monstern zu tun. Sie muss wichtige Entscheidungen treffen.

„Girl in Amber“ erzählt Ereignisse aus Henrys Alice-Romanen weiter, kommentiert und vertieft sie zugleich. Was hier interessant ist, ist nicht die äußere Handlung, sondern die Spannung, die zwischen der beschränkten Wahrnehmung und der Innenwelt der Protagonistin entsteht. Das organisch wirkende Geisterhaus stellt eine Bedrohung dar. Ein wenig erinnert dies Szenario an die Schlosssequenz in Die Chroniken von Alice – Die schwarze Königin“. Hier wie dort lernt Alice etwas mehr über ihre magischen Fähigkeiten und muss auf sich alleine gestellt eine Bedrohung meistern.

When I First Came to Town

Bevor Hatcher und Alice einander kennen und lieben lernten, verbrachten sie eine sehr lange Zeit in der Psychiatrie. Und vor dieser Zeit führte Hatcher ein Leben, in dem er mit bürgerlichem Namen Nicholas hieß. Als Jugendlicher arbeitete er in der Old City für den Betreiber eines Fight Clubs und eines Tages sollte er gegen den Grinder, den gefährlichsten und brutalsten Kämpfer, antreten. Für den Kampf gab es eine sehr hohe Prämie, aber es bestand eben auch die Möglichkeit, daraus verstümmelt oder tot hervorzugehen. Grinders Boss Rabbit hatte immer ein traurig blickendes unterwürfiges Mädchen mit Namen Hattie an seiner Seite, in das Nicholas sich verliebte.

Wir erfahren in dieser Back Story viel über Hatchers Vergangenheit. Darüber, wie er zu kämpfen lernte, seine magische Fähigkeit mit der Hilfe Cheshires ausbilden konnte, und wie er seine Frau kennenlernte.

The Mercy Seat

Diese Geschichte setzt die Handlung von „Girl in Amber“ unmittelbar fort und bildet den Schluss der Sammlung wie auch der Alice-Geschichten insgesamt. Den harten Winter verbringen Hatcher und Alice in der Hütte der freundlichen Hexe Olivia. Alice freundet sich mit Olivia an, während Hatcher durch den Wald streift. Alice macht eine Entdeckung, die sie veranlasst, mit Hatcher aufzubrechen und einen Ort zu finden, an dem sie sich niederlassen können.

Auf ihrer Suche kommen sie durch ein Dorf, das eine sehr spezifische und brutale Form von Reinheitsgebot zum wichtigsten Gesetz erhoben hat. Die Bewohner*innen leben in einem perversen Machtsystem unter Kontrolle einer Frau, die als Auserwählte akzeptiert wird. Hatcher und Alice geraten in eine lebensbedrohliche Lage.

Schön strukturierte Erzählungen

Während Henry in den beiden Romanen entlang der linearen Zeitlinie ihre Charaktere entwickelt, liefert sie in „Looking Glass“ ein Narrativ, fragmentiert in vier Novellen, die dem Muster a-b-a-b folgend ineinandergreifen. Jede der Novellen hat ein eigenes Entwicklungsschema sowie ein eigenes Thema und ist ein kleines, personell stark beschränktes Drama für sich, das eine Phase im Leben der jeweiligen Figuren repräsentiert. Es lässt sich eine einfache, weil offensichtliche, Chronologie der Ereignisse und Texte herstellen.

Wenn die Magie eine Kunst ist, eine Begabung, die weiterentwickelt werden kann, dann sind die beiden ersten Novellen Erzählungen einer Künstlerin im Werden – Elizabeth wie Alice. Die Erzählinstanz ist nahezu durchgehend in der dritten Person Singular gehalten. Sie gibt nicht nur die äußere Handlung wieder, sondern auch Wahrnehmungen. Erweitert wird dieser Ansatz durch Elemente innerer Handlung, die zumeist in der Ich-Form reflektierenden Charakter aufweisen.

Fazit

Ist Die Chroniken von Alice – Finsternis im Wunderland“ eine Rachegeschichte im Gewand einer pychotischen Reise, ist Die Chroniken von Alice – Die schwarze Königin“ doppelter Kampf: die Scheidung von Illusion und Realität – zumindest als Feldversuch – und die Loslösung von der Familie. Diese Themen bestimmen auch „Looking Glass“, bevor es am Ende in eine Welt der Zuversicht geht.

Vielleicht wäre es schön, in der deutschsprachigen Veröffentlichung, die bei Penhaligon für den 19. April 2021 als „Die Chroniken von Alice – Dunkelheit im Spiegelland“ geplant ist, die Titel der Novellen im Original zu belassen, weil es sich bei allen um Songtitel von Nick Cave & The Bad Seeds handelt.

DANKE! an Gastredakteur Holger Wacker

Looking Glass
Die Dunklen Chroniken, Band 3
Christina Henry
Fantasy (Horror)
Ace
April 2020
304
Pep Montserrat
79

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