Lebt wer sich nicht wehrt verkehrt?
Das Königreich Akitania ist ein friedlicher Agrarstaat, seine Bewohner Bauern und Handwerker. Vor vielen Jahren gab es einen Krieg gegen das Nachbarreich, doch daran erinnert sich kaum noch jemand. Bis die Sieben Heere Nafarroas in das Land eindringen, Städte und Dörfer besetzen.
„Die Heere Nafarroas kamen, wie der Herbst kommt, langsam und unaufhaltsam, nach und nach alles einfärbend mit ihrem schwarzweißen Rüstzeug aus gebrochenem Licht.“ [S. 5]
In das Dorf Hagetmau kommen dreißig Soldaten, ihr Anführer reitet auf einem Gryph. Die Schwestern Nendléce und Varlie bemerken sie zuerst und holen das alte Schwert ihres Urgroßvaters mit Namen Säge vom Speicher. Sonst regt sich kein Widerstand gegen die Eroberer, die alle strategisch wichtigen Punkte wie die Brücke, den Glockenturm und die Ratshalle besetzen.
Der Capitar vom Dritten Nafarroanischen Heer versichert den Dörflern, dass sich kaum etwas für sie ändern wird. Akitania darf seinen Namen und seine Byrgherin Rauthne behalten, das Volk weiter seine Religion ausüben, die Abgaben werden nicht erhöht. Die Soldaren (Meissners Begriff für die Soldaten) sollen schon bald wieder verschwinden. Fünf Hagetmauer Bürger werden zunächst festgesetzt, bis auf die Byrgherin und den Semanen Mardein jedoch am nächsten Tag wieder freigelassen.
Im Wirtshaus Das Schwarze Lamm sammeln sich Abend für Abend die Dörfler und beratschlagen die Lage. Die meisten finden sich mit der Situation ab oder vertrauen darauf, dass der Schutzgott Abelion über sie wachen wird. Der Capitar schickt zwei seiner Leute in das Wirtshaus, damit sie sich unters Volk mischen, Normalität im Dorfbild werden. Doch ausgerechnet diesen Augenblick sucht sich der Dorfaufrührer Tautun aus, um nach tagelanger Herumtreiberei nach Hagetmau zurückzukehren. Im Wirtshaus provoziert er die Soldaren und sorgt für eine gewalttätige Kehrtwende in der bis dahin unblutigen Eroberung Akitanias durch die nafarroanischen Heere.
Ist Widerstand zwecklos?
In Tobias O. Meissners neuen Roman wird gerade mal ein Land erobert, allerdings kein König ermordet, keine Religion verbannt, keine finstere Intrige gesponnen und auch keine Weltherrschaft errungen. Die Geschichte mit dem ein wenig martialisch klingenden Titel „Sieben Heere“ spielt in einem einzigen Dorf, abgesehen von einem kurzen Ausritt in ein Nachbardorf. Und doch erfasst die Geschichte alles, was populäre Fantasy-Epen (siehe auch Blogtourartikel „Einordnung in den Fantasy-Kosmos„), die im Hype der Verfilmung von George R.R. Martins epochalem Zyklus „A Song of Ice and Fire“ veröffentlicht werden, auszeichnet: Dramatik, Gewalt und Verschwörung auf Leben und Tod.
All das, bahnt sich ganz langsam an, wodurch auf den vierhundert Seiten des Romans die Spannung stetig steigt. Der Leser erwartet genau diesen Verlauf und kann doch irgendwie nicht glauben, was da passiert. Zu einfach und harmlos erscheint zunächst die Dorfgemeinschaft der Hagetmauer, zu schwach ihre Position gegen ein bestens gerüstetes Heer. Und das ist noch nicht der wesentlichste Grund für die Fassungslosigkeit, mit der man als Leser die Ereignisse beobachtet. Doch dazu später.
Der Schauplatz ist unspektakulär, ein Dorf irgendwo in einer gemäßigten Klimazone. Wir erfahren über die Welt, in der „Sieben Heere“ spielt, nicht viel. Nur das Akitania ein fruchtbares, regenreiches Land ist und das südlich gelegene Nafarroa unter einer Dürreperiode leidet. Im Lauf der Handlung wird ein paar Mal darauf hingewiesen, dass es nun auch in Akitania untypisch trocken ist. Meissner beschränkt die Handlung seiner Geschichte zwar auf dieses eine Dorf, beschreibt dafür aber die Handlungsorte umso detailreicher. Man sieht jedes Fleckchen Erde, späht in jeden Winkel der Gebäude und folgt den Protagonisten auf Schritt und Tritt. Der Begriff Kopfkino – in Rezensionen inflationär bemüht – passt hier wirklich. Ähnlich anschaulich beschreibt Meissner die Handlungsträger. Einige von ihnen stechen aus der Masse der harmlosen Dörfler heraus, andere sind eher Mitläufer. Doch die wenigsten passen in ein Schwarz-Weiß Schema. Meissner beschreibt ausführlich die Beweggründe jedes einzelnen und welche Hintergründe den Protagonisten zu seinem Tun verleiten. Auch die Haltung der Gemeinschaft gegenüber dem Dorfrebell Tautun hat seine guten und nachvollziehbaren Gründe.
Insgesamt entsteht ein Psychogramm, das an ähnliche aus der Feder Stephen Kings erinnert. Über eine zunächst eher harmlose und schließlich verschworene Gemeinschaft, die von wenigen angestachelt wird und gemeinschaftlich auszieht, um den Feind brutal zurückzuschlagen. Mit jedem Mittel, das dafür notwendig ist. Und so liegt der Hauptgrund dafür, dass der Leser immer wieder irritiert den Kopf schüttelt, darin, dass eigentlich gar kein Grund für das Blutvergießen besteht. Denn der Feind, die Soldaren bemühen sich um Unauffälligkeit, ja Freundlichkeit und Kooperation mit den Dorfbewohnern. Bezeichnend dafür ist zum Beispiel die Szene, als das Mädchen Nendléce den Gryph aufsucht. Statt weggeschickt oder gar bestraft zu werden, bekommt sie Gelegenheit, sich mit dem wundersamen Tier anzufreunden. Meissner skizziert die erste Gewalttat als Büchse der Pandora, die selbsttätig weitere Gewalt nach sich zieht. Es fühlt sich befremdlich an, dass man eher für die Eroberer Partei ergreifen möchte, als für die Eroberten. Obwohl man weiß, dass die Nafarroaner nicht mit guten Absichten nach Akitania gekommen sind.
Der Autor hinterfragt immer wieder, wer nun Recht und Unrecht tut, gute oder böse Absichten verfolgt. Als Leser schwankt man hin und her, zwischen Sympathie und Antipathie zu Dorfbewohnern und Soldaren, zwischen Hoffen und Bangen, ob sich die Katastrophe, die man kommen sieht, noch abwenden lässt.
Gerade in diesen Tagen, inmitten der Flüchtlingskrise und nach den grausamen Anschlägen in Paris, kann man nicht anders, als in „Sieben Heere“ auch eine Parabel zur derzeitigen politischen Situation zu sehen. Eine Parabel über Ursache und Wirkung in einer Spirale der Gewalt, einer Parabel über das schnell gefällte Urteil, wer und was nun das ‚Gute‘ und das ‚Böse‘ sind. „Sieben Heere“ ist, ebenso wie Meissners Roman „Die Soldaten“ auch, ein Bekenntnis zum Pazifismus. Eine Aufforderung zum gewaltlosen Widerstand gegen eine Übermacht, die uns weismachen will, in unserem Interesse zu handeln. Und somit ist der Roman „Sieben Heere“ weitaus mehr, als nur ein unglaublich spannender, hintergründiger und herrlich gegen den Strich gebürsteter Fantasy-Roman.
Eva Bergschneider
Fantasy
Piper
November 2015
416
Funtastik-Faktor: 90