Spannende Fantasy trifft auf deutsche Geschichte
In „Der Herr der Unruhe“ befasst sich der deutsche Fantasy-Literat Ralf Isau wie in „Der Kreis der Dämmerung“ mit der Zeit des Nationalsozialismus. Die Integration phantastischer Elemente in einen historischen Kontext stellt eine echte Herausforderung dar, besonders wenn dieser den meisten Lesern durch Geschichtsunterricht und die Aufarbeitung in den Medien sehr gegenwärtig ist. Lässt sich unterhaltsame Fantasy überhaupt mit den realen, menschenverachtenden Taten der Nazis und den Schrecken des zweiten Weltkrieges verbinden?
Die Ermordung des jüdischen Uhrmachers
Als der dreizehnjährige Nico die Rossi von der Schule nach Hause kommt, muss er mit ansehen, wie sein Vater erstochen wird. Der mächtigste Bürger der Stadt Nettuno, Massimiliano Manzini, hatte eine besondere Uhr in Auftrag gegeben, an der Emanuele die Rossi über ein Jahr zu arbeiten hatte. Nach deren Fertigstellung ist der Kunde zunächst von der filigranen Arbeit des Meisters entzückt, bis er die Prägung der Werkstatt, das Dante Zitat
„Die Zeit geht hin und der Mensch gewahrt es nicht“
im Innendeckel entdeckt. Manzini verlangt die sofortige Zerstörung der Uhr und verweigert ihre Bezahlung. Zwischen den Männern kommt es zum Kampf auf Leben und Tod. Bevor der alte Uhrmacher seinen letzten Atemzug tut, spricht er den Fluch
„Dein Leben soll wie die Unruh der Uhr sein, die Du gestohlen hast, unstet, zerbrechlich und wenn sie einst stehen bleibt, sollst auch Du sterben.“
aus. Während der Mörder Manzini nach dieser Verwünschung um Fassung ringt, flieht der Sohn des Uhrmachers zu dem Lehrmeister und Freund seines Vaters nach Rom. Doch auch in der ewigen Stadt ist Nico nicht sicher. Der mit dem alten Meister Davide befreundete Benediktinerpater Lorenzo ermöglicht ihm die Weiterreise nach Wien. Mit einer neuen Identität lebt Nico beim Ehepaar Johan und Lea Mezei, die ihn wie einen Sohn aufnehmen und das Uhrmacherhandwerk lehren.
Die Jahre in Wien bringen Nico Albträume und reale Schrecken, denn mit dem Einmarsch der Deutschen kommt auch der antisemitische Terror nach Österreich. Als die Mezeis mit Nico in Leas italienische Heimat fliehen müssen, kennt Nico nur einen Ort, an den er zurückkehren will, nach Nettuno.
Liebe und Hass
Nicos dringendster Wunsch ist, dass Massimiliano Manzini für den Mord an seinem Vater bezahlt. Der reiche Geschäftsmann ist infolge seiner guten Beziehungen zu Benito Musselini inzwischen Stadtvorsteher von Nettuno geworden.
Durch sein seltsames Talent, Maschinen beliebig zu manipulieren, wird Nico als „;Doctor Mechanicae“; in Nettuno bekannt und berühmt. Er überredet das störrische Automobil, mit dem Manzinis schöne Tochter Laura unterwegs ist, zur Weiterfahrt und rettet in einer spektakulären Aktion einem kleinen tauben Mädchen das Leben. Die Begegnung mit Laura bedeutet für Nico die grosse Liebe und zugleich ein katastrophales Dilemma. Wie kann er die Tochter seines Todfeinds für sich gewinnen und gleichzeitig seine Rache ausüben?
Nichts Böses ahnend, bietet Manzini Nico eine Arbeit als Stadtmechaniker an und verpflichtet ihn, seine eingeschlossene und streng bewachte ‚Lebensuhr‘ in Gang zu halten. Der abergläubische Stadtvorsteher fürchtet, dass ihr Stillstand auch sein Lebensende bedeutet, denn diese Taschenuhr ist die des jüdischen Uhrmachermeisters Emanuele die Rossi.
Während Krieg, Leid und die Deportation der Juden auch die italienische Bevölkerung erreichen, profiliert sich Manzini als Opportunist und Kriegsgewinnler, während der junge Wundermechaniker mit allen Mitteln versucht, den Mord an seinem Vater zu vergelten.
Eine fesselnde Biografie und ein Stück Zeitgeschichte
Der begnadete Wortkünstler Ralf Isau erzählt die Geschichte des jüdischen Uhrmachers Nico die Rossi aus dessen Sicht in ausdrucksstarken Bildern und mit viel Phantasie. Die Charaktere in „;Der Herr der Unruhe“; sind ebenso ausgefeilt und greifbar, wie die düstere und bedrohliche Atmosphäre. Ralf Isau zeichnet ein faszinierendes Portrait der jüdischen Kultur und schildert einfühlsam die individuellen Schicksale der Menschen dieser Zeit. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sondern immer wieder durch Rückblenden in die Kindheit des Hauptprotagonisten unterbrochen. Die Haupthandlung setzt 1938 ein und ist teilweise an Dramatik und Spannung kaum zu überbieten, Nicos Flucht und Lehrzeit in Österreich wird dagegen eher ruhig erzählt. Dadurch ist die Atmosphäre in den einzelnen Kapiteln ganz unterschiedlich, dramatische Handlungsstränge werden von anrührenden Absätzen unterbrochen, Depression folgt auf Euphorie. Ralf Isau gelingt es dennoch, die unterschiedlichen Erzählebenen am Ende zu einem abgerundetem, harmonischen Gesamtbild zu vereinen. Der Leser kennt erst am Ende alle Details aus Nicos bewegender Lebensgeschichte in dieser für Menschen jüdischen Glaubens so schicksalhaften Zeitepoche.
Das Paradebeispiel eines Phantagons
Phantagon: Roman, in dem jeder Leser eine andere Mischung verschiedener literarischer Formen oder Gattungen (Genres) erblickt.
Der Roman ist einerseits ein spannender Krimi, in dem der Hauptprotagonist den Mörder unter lebensgefährlichen und schwierigen Bedingungen überführt.
Zudem ist er ein Historienroman, der die Jahre 1932-1944 in Italien und Österreich porträtiert. Obendrein ist „Der Herr der Unruhe“; ein faszinierender Fantasy-Roman, in dem der Hauptcharakter übernatürliche Fähigkeiten einsetzt und dennoch einen beinahe aussichtslosen Kampf gegen einen überlegenen Gegner austrägt.
Der unmittelbare Realitätsbezug der Geschichte führt dazu, dass man als Leser hohe Ansprüche an die Glaubwürdigkeit der Handlung stellt. In diesem Punkt kann „Der Herr der Unruhe“ nicht immer ganz überzeugen, manchmal wirken die übernatürlichen Fähigkeiten der Hauptfigur wie ein Ausweg, um die Handlung voran zu bringen. Insgesamt ist Ralf Isau zweifellos ein faszinierendes Phantagon gelungen, in dem die Grenzen verschiedener Literaturgattungen ganz selbstverständlich verschwinden. „Der Herr der Unruhe“ ist trotz des komplexen Themas spannende, unterhaltsame Lektüre, die dem Leser eine ungewöhnliche Sichtweise auf die humane Tragödie des Nationalsozialismus eröffnet.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Fantasy
Bastei-Lübbe/Ehrenwirth
2004
432
Funtastik-Faktor: 79