Fast schon ein Mystery-Klassiker
„Die Alchimistin“ ist eines der früheren Werke des inzwischen recht populär gewordenen Autors der Jugend- und Fantasy-Literatur Kai Meyer. Im Juni 2007 erschien eine Neuauflage des 1998 vorgestellten Werks, gemeinsam mit dem erstmals 2001 erschienenen, zweiten Teil „Die Unsterbliche“.
Leser, die die Saga um die Alchimistin schon vor Jahren begeistert verschlungen haben, werden die Romane vielleicht noch einmal genießen, wem die Duologie bisher entgangen ist, wird erneut darauf aufmerksam gemacht. Kann sich Kai Meyers Frühwerk zehn Jahre nach der Erstauflage in dem inzwischen immens gewachsenem Pool der Mystery-Veröffentlichungen immer noch behaupten?
Willkommen auf der Burg
Charlotte Institoris führt den 17 jährigen Adoptivsohn Christopher in sein neues Heim ein. Die Burg, einsam auf einem der Ostseeküste vorgelagertem Felsen gelegen, wirkt mit ihren bunten Fensterbildern faszinierend und düster zugleich. Zur Familie Institoris gehören die leiblichen Töchter Aura und Sylvette, ein weiterer Adoptivsohn Daniel und der Alchimist Nestor Nepomuk Institoris. Das Familienoberhaupt verlässt allerdings selten seinen Dachgarten, in dem er ein Labor und eine Bibliothek eingerichtet hat. Als Christopher neugierig in Nestors geheimes Refugium eindringt, erwartet ihn statt Strafe eine Überraschung. Nestor erklärt Christopher zu seinem Schüler. Bald darauf wird der Meister ermordet. Christopher verscharrt ihn im Dachgarten und setzt die Forschungen seines Adoptivvaters fort, den eine lange Zeit niemand vermisst.
Reise in eine verhängnisvolle Vergangenheit
Auras Exil im schweizerischen Mädcheninternat findet ein jähes Ende, als sie die Direktorin des Mädchenhandels überführt. Ausgerechnet der Mörder ihres Vaters, der geheimnisvolle Hermaphrodit Gillian, befreit sie aus der Festung. Von ihm erfährt Aura, welch perverses Experiment ihr Vater mit ihr plante und das sein erbitterster Widersacher ihre Schwester entführten ließ, um ihr das Gleiche anzutun. Mit Gillian reist Aura nach Wien, um Lysander aufzuspüren. Ihre Suche nach einem seit Jahrhunderten begehrten und zugleich gefürchteten Mysterium, der Unsterblichkeit, hinterlässt eine Blutspur durch ganz Europa.
„Die Alchimistin“ kommt langsam, aber gewaltig
Mit Christopher lernt der Leser zunächst die Familie Institoris kennen und taucht langsam in die Geheimnisse ein, die nach Nestors Ermordung die Geschichte prägen werden. Ständig neu hinzu kommende Figuren, Schauplätze und schließlich Handlungen in mehreren Zeitebenen, sorgen dafür, dass die Spannung steigt und die Story immer komplexer wird. Die Aufarbeitung der Historie von Templern und Alchimisten runden die Geschichte ab, ohne belehrend zu wirken und den Unterhaltungswert zu beeinträchtigen.
Kai Meyer schockiert mit prekären Themen, wie experimenteller Inzest und Mädchenmord, ohne in klischeehaft plakative Schilderungen zu verfallen. Mit Hilfe ausdrucksstarker Bilder erschafft der Autor eine mystische Atmosphäre. Ein klaustrophobisches Gefühl, das die Abwasserkanäle der Wiener Unterwelt („Der dritte Mann“ lässt grüßen) hervor rufen, ist ebenso greifbar, wie der Entbehrungsreichtum eines Lebens im Kaukasus.
Im zweiten Teil des Romans überschlagen sich die Ereignisse, Auras Jagd auf den Erzfeind ihres Vaters Lysander ist an Dramatik kaum zu überbieten. Mit dem zunehmenden Nervenkitzel, wird die Geschichte allerdings unschlüssiger. Ein zentraler Charakter erscheint fast aus dem Nichts und einige Erklärungen, z.B. die für den siebenjährigen Handlungsstillstand, bleibt der Autor dem Leser schuldig.
Düster – aber wenig schwarz-weiß
Ein klassisches Gut-Böse Schema passt auf fast keine der Figuren, ihr hervorstechenstes Merkmal ist Vielschichtigkeit. Die Titelheldin Aura wirkt eher schroff und berechnend, als sympathisch. Manchmal fällt es schwer, die Reaktionen und die gravierende Wandlung der Figuren nachzuvollziehen. Diese Unberechenbarkeit sorgt für viele überraschende Wendungen und verleiht dem Roman Dynamik.
Unterm Strich ist „Die Alchimistin“ ein morbider und okkulter Mystery-Thriller, den Kai Meyer mit geheimnisvollen Figuren an schaurig-schönen Orten in Szene gesetzt und mit interessanten historischen Details ausgestattet hat. Ohne die logischen Patzer und Entwicklungssprünge, die der Leser als gegeben hinnehmen muss, wäre aus dem Roman ein richtungsweisendes Werk geworden. „Die Alchimistin“ begeistert viele Fans des Mystery-Genres, spricht aber nicht unbedingt einen breiteren Leserkreis an.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Die Alchimistin Band 1
Fantasy
Heyne
1998
492
Funtastik-Faktor: 70%