Cleverer Krimi und Cyberpunk Klassiker zum Thema Unsterblichkeit
Elite-Soldat Takeshi Kovacs wurde auf Harlans Welt mit dem Tod bestraft. Doch tot bedeutet in der Welt von „Altered Carbon“ nicht gleich Tod. Denn eine Kopie von Geist und Persönlichkeit eines Menschen befindet sich auf einem Datenträger, genannt Stack, implantiert im Nackenbereich. Wird dieser nicht zerstört, kann zwar der Körper sterben, die Persönlichkeit aber erhalten und in einen neuen Körper übertragen werden. Das ist recht praktisch, wenn ein Verstorbener Jahre später die Hochzeit von Tochter oder Sohn besuchen möchte. Oder ein veralteter Kriminalfall noch einmal aufgerollt wird, weil ein verstorbener Zeuge zur Aufklärung beitragen kann. Oder wenn ein hochentwickelter Elitesoldat für die Aufklärung eines Mordversuchs an einer wichtigen Persönlichkeit von Nutzen ist.
Die Verstorbenen werden „resleeved“ und erhalten in der Regel einen anderen Körper. So geht es auch Takeshi Kovacs, als der sogenannte „Meth“ Laurens Bancroft ihn auf die Erde des 24. Jahrhunderts rekrutiert, um einen Mordanschlag auf sich selbst aufzuklären. Kovacs war ursprünglich Halbasiate und trägt nun den Körper eines weißen nikotinsüchtigen Polizisten. Die reichen und mächtigen Meth haben diese Einschränkungen nicht und sind nahezu unsterblich. Ihre Persönlichkeit wird nicht nur auf dem Stack gespeichert, sondern ihr Leben regelmäßig aktualisiert. Zudem horten sie beliebig viele Klone ihres Wunsch-Ichs an verschiedenen Orten, in die sie jederzeit schlüpfen können.
Die Polizei hat die Schüsse auf Bancroft als Selbstmordversuch zu den Akten gelegt. Und doch zeigt die ermittelnde Beamtin Kristin Ortega weiterhin Interesse an der Aufklärung. Sie weicht Takeshi Kovacs nicht von der Seite, als er die Ermittlungen aufnimmt. Oder steckt noch ein anderer Grund dahinter? Wer wollte Bancroft ins Jenseits befördern und warum? Takeshi Kovacs hat alle Hände voll zu tun, um den wahren Mörder zu finden. Denn ein über 360 Jahre altes Leben birgt viele dunkle Geheimnisse.
Von der TV-Serie zum Buch
„Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm“ heißt auch eine TV-Serie zum Buch, die Netflix ab Anfang Februar in Deutschland ausstrahlte. Der Roman des Briten Richard Morgan erschien bereits 2002 (deutscher Titel „Das Unsterblichkeitsprogramm“, englischer Originaltitel „Altered Carbon“) und Hollywood reagierte, kaum dass die ersten positiven Kritiken veröffentlicht wurden. Frank Schätzing („Der Schwarm“) und Markus Heitz („Die Zwerge“) können ein Lied darüber singen: Wenn ein Filmstudio sich die Rechte an einem Roman sichert, erfolgt noch lange keine Verfilmung. Da musste erst der Streaming-Anbieter Netflix kommen und sich des düsteren Stoffs im TV-Serienformat annehmen.
Ich bin über die TV-Serie zum Buch gekommen, umgekehrt ist es mir lieber. „Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm“ hat mir wieder gezeigt, warum das so ist. Nicht falsch verstehen, die TV-Serie ist großartig und jede Sekunde Sendezeit der zehn Folgen à 60 Minuten sehenswert. Allerdings ist der Protagonist mit dem Schauspieler Joel Kinnaman fehlbesetzt. Wenigstens trösten die Rückblenden auf Takeshis früheres Leben, in denen er von Will Yun Lee gespielt wird, über die schwache Leistung des schwedischen Theater-Schauspielers hinweg. Sagt man Theaterschauspielern nicht mehr Ausdrucksstärke nach, während Darsteller von Actionfilmen mit weniger Mimik auskommen? Beim Theatermann Joel Kinnaman und dem Comic- und Actionfilm Darsteller Lee scheint es sich umgekehrt zu verhalten. Bei Kinnaman beschränken sich die Gesichtsausdrücke auf cool, wütend oder schmerzverzerrt. Ich dachte zuerst, dass dieses emotionsarme Gesicht zur Rolle des Resleevten gehört. Dann sollte sich im Laufe der Serie mehr Mimik entwickeln, was nicht der Fall ist. Dagegen spielt Will Yun Lee überzeugend eine breite Palette unterschiedlicher Emotionen wie Verzweiflung, Trauer, Entschlossenheit, Zärtlichkeit und Liebe. Um das Buch zu genießen, musste ich erst Kinnamans eintöniges Gesicht aus meinem Kopf verbannen.
Insgesamt war ich überrascht, dass die TV-Serie sich recht nah an die Romanvorlage gehalten hat. Es gibt natürlich Änderungen, wie Figuren die nur in der TV-Serie auftauchen. Motive, die mehr hervorgehoben oder in den Hintergrund gedrängt wurden, Szenen, die in der Serie deutlich dramatischer ausfallen. Beziehungen zwischen Personen, die der Roman nicht beschreibt. Es war aus meiner Sicht keine wirklich storyrelevante Änderung dabei.
Genug zur Netflix-Serie, hier soll es um den Roman „Altered Carbon-Das Unsterblichkeitsprogramm“ von Richard Morgan gehen.
So muss Cyberpunk: voll extremer Szenarien, clever geschrieben und ultraspannend
Der Cyberpunk hält unserer Gesellschaft ein schillerndes und düsteres, zukünftiges Spiegelbild vor, von diesem Gegensatz lebt das Genre. Der schillernde Teil ist in „Altered Carbon“ die Vision, dass das Leben nicht mit dem natürlichen Tod enden muss. Die Vorstellung, wie die Meth über 300 Jahre zu leben, ohne zu altern, hat etwas Faszinierendes. Welchen Erfahrungsschatz erwirbt ein Mensch über so viele Jahre? Wie viele gesellschaftliche Umbrüche, welche technologischen Entwicklungen erlebt er mit? Wie viele Folgegenerationen sieht er heranwachsen? Zu welch einem Menschen, vielleicht Übermenschen, entwickelt er sich?
Eine Kehrseite der Medaille ist, dass Fortschritt ohne Nebenwirkungen zuerst den Reichen vorbehalten ist. Die Ärmeren müssen einen Körper nehmen, der gerade verfügbar und bezahlbar, möglicherweise in einem erbärmlichen Zustand ist. Und jene, die mit ihrem natürlichen Tod ein ultimatives Ende wollen, werden gegen ihren Willen zurückgeholt. Damit wären wir bei den Schattenseiten in der Welt von „Altered Carbon“, dem Missbrauch des „Resleevings“. Der wird in denkbar grausamster und entwürdigenster Art und Weise ausgeübt.
Es ist ein in mehrfacher Hinsicht harter Stoff, den uns Richard Morgan in „Altered Carbon“ vorsetzt. Sowohl Handlung und Storyaufbau, als auch Schreibe stammen aus der Hard-Boiled School. Wer diesen Stil mag, wird an „Altered Carbon“ Spaß haben. In Gewalt- und Folterszenen lässt der Autor kein Detail aus und beim Sex bleibt wenig der Fantasie des Lesers überlassen. Dennoch geraten diese Exzesse nie zum Selbstzweck, sondern dienen stets der Handlung und sorgen für Spannung auf jeder Seite. Richard Morgan erzählt in der Ich-Form aus der Perspektive des Protagonisten. Er bedient sich dessen erweiterter Sinneswahrnehmungen, springt in dessen Vergangenheit und an exotische Schauplätze. Trotz des eingeschränkten Blickwinkels wirkt die Erzählung so dynamisch, manchmal etwas chaotisch. Was perfekt zur düsteren, grotesk anmutenden Atmosphäre passt. Form und Inhalt bilden eine sich gegenseitig ergänzende Einheit.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht Takeshi Kovacs als hartgesottener Söldner mit der Vergangenheit eines technisch aufgerüsteten Elitesoldaten. Ähnlich wie in „Zero One Dewey“ von Nathan Larson ist es Richard Morgan gelungen, seinem zynischen Protagonisten einen individuellen Moralkodex zu verleihen, mit dem sich der Leser identifizieren kann. Ein Antiheld, der kompromisslos tötet, um schonungslos unbequeme Wahrheiten aufzudecken. Mit allen Konsequenzen für ihn, seinen Auftraggeber, seine Mitstreiter und Gegner.
Die einzige Kritik, die ich an „Altered Carbon“ habe, ist die Vernachlässigung der Zeitgeschichte. Geschenkt, dass die vorgestellte Zukunftstechnologie einem Zufall zugeschrieben wird. Aber warum hat sich in über zweihundert Jahren, in denen der Protagonist auf dem Datenträger und im Tank aufbewahrt wurde, nichts verändert? Gerade zum Thema Langlebigkeit hätte ich mir eine Entwicklung gewünscht. Diese Chance, der Story eine zusätzliche Verfeinerung zu verleihen, hat der Autor leider gänzlich ungenutzt gelassen, obwohl sie so naheliegend gewesen wäre.
„Altered Carbon“ bietet mehr als Action und Nervenkitzel, denn die Geschichte rührt an elementaren Fragen der Menschheitsgeschichte. Wie erstrebenswert ist es, lange zu leben? Welchen Preis zahlt die Menschheit dafür? Wie verändert die Hoffnung auf Unsterblichkeit den Menschen und dessen Werte? Wie sehr macht den Menschen seine Sterblichkeit aus? Fragen auf die Takeshi Kovacs keine Antworten findet, denn er klärt nur einen Mordanschlag auf. Dabei begegnen ihm die fatalen Auswüchse einer Gesellschaft, die sich diesen Fragen zu spät gestellt hat.
Eva Bergschneider
Takeshi Kovacs Trilogie, Band 1
Science-Fiction/Cyberpunk
Heyne Verlag
August 2017
608, als E-Book: 2186 KB
Funtastik-Faktor: 88
Hallo,
ich schaue sehr, sehr selten Fernsehen, aber das Buch klingt wirklich spannend! Ich habe in den letzten Jahren nur wenig SciFi / Cyberpunk gelesen, im Moment habe ich wieder richtig Lust drauf.
Folterszenen brauch ich nicht unbedingt, aber wenn sie zur Handlung beitragen und nicht nur „torture porn“ sind, ist es für mich ok.
Ich habe diesen Beitrag HIER für meine Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs verlinkt.
LG,
Mikka
Hallo Mikka, DANKE fürs Verlinken und Vorstellen auf Deinem Blog, das freut mich wirklich sehr. Ich kann Dir das Buch auf jeden Fall empfehlen, wenn Du Dich für SF/Cyberpunk interessierst. Gehört für mich zu den besten Büchern in der Richtung. Was die Folterszenen angeht, stimme ich Dir zu. Ich mag es auch nicht, wenn es nur um die Datstellung (oder gar Verherrlichung) von Gewalt geht. Aber hier sind sie sehr speziell und stellen eine furchtbare Facette des Missbrauchs des vorgestellten „Fortschritts“ dar. Und die Szenen waren im Buch weniger ausschweifend, als in der TV-Serie. Daher sind sie für den Kontext der story relevant und man hat sie recht schnell gelesen. LG, Eva