Intelligente und klischeefreie Dystopie
Dan Wells, bekannt geworden durch seine Reihe um den Dämonenjäger John Cleaver, ist ein vielseitiger Autor. Er kann nicht nur spannend und düster, sondern auch komisch schreiben, wie er in Sarg niemals nie unter Beweis stellte. Nun wagt er sich, wie so viele Autoren, an die moderne Form der Dystopie heran. Was allerdings nicht wirklich Neuland für den Autor ist, denn als ehemaliger Redakteur eines SF-Magazins kennt er sich mit Zukunftsliteratur aus. Man darf also gespannt sein, welche Apokalypse Dan Wells für die Menschheit bereithält.
Wir haben überlebt – und sterben
Die Apokalypse traf die Menschheit gleich doppelt. Die „Partials“, von Menschen menschengleich designte Roboter, waren als perfekte Krieger konstruiert worden, im „Partial-Krieg“ töteten sie ihre Erschaffer. Zudem raffte der tödliche Virus RM die Menschen, die nicht dem Krieg zum Opfer fielen, dahin. Einige wenige waren immun und verschanzten sich in East Meadow auf Long Island vor der Ostküste der USA.
Seit 11 Jahren lassen die Partials sie dort in Ruhe. Aus den Ruinen wurde eine funktionierende Infrastruktur aufgebaut und viele sind sich einer möglichen Gefahr durch den tödlichen Gegner nicht mehr bewusst. Und dennoch wird es kein Morgen für die Menschheit geben, denn alle Babys sterben.
Kira und Marcus lieben sich und sind ein Paar. Das Zukunftsgesetz verpflichtet alle Mädchen ab dem 18. Lebensjahr dazu, möglichst oft schwanger zu werden. Man hat mit medizinischer Forschung bisher nichts erreicht und hofft nun, durch die Menge an Babys die Chance auf einen immun geborenen Nachkommen zu erhöhen. Doch für die 16 jährige Kira ist diese Vorstellung der reinste Horror. Sie arbeitet auf der Entbindungsstation, dort sieht sie täglich Babys sterben und Mütter sinnlos leiden. Als schließlich ihre Freundin Madison schwanger wird, beschließt sie, einen Partial zu überwältigen, um herauszufinden, was ihn immun macht. Der in Manhattan gefangene Partial Samm ist keineswegs ein kaltherziger Killer, er wird alles, was Kira bisher lernte und glaubte, auf den Kopf stellen.
Eine typische Young Adult Dystopie – und doch anders
Auf den ersten Blick ist Aufbruch, der erste Teil der „Partials“-Trilogie, eine Dystopie ähnlich wie die, die seit dem Erscheinen der Tribute von Panem von Suzanne Collins zuhauf auf dem Buchmarkt zu finden sind. In diesen „Young adult Dystopien“ wird uns meistens eine in einer zerstörten und lebensfeindlichen Welt neu etablierte Gesellschaft vorgestellt. Ein Teenager bricht dort aus, um die Zukunft der Menschheit zu sichern, oder sie freier und lebenswerter zu machen. Eine „Mädchen trifft Junge“-Geschichte unter den erschwerten Bedingungen spielt oft eine handlungstragende Rolle. Soweit so gut und so bekannt.
In der Grundstruktur weicht Aufbruch nicht wesentlich von diesem Schema ab, und doch hat sich der Autor Dan Wells einige Besonderheiten einfallen lassen.
Am auffälligsten ist das Fehlen einer aufkeimenden Liebe, einer Story über das „sich finden“. Die Hauptprotagonistin hat von Beginn an einen festen Freund und Kira und Marcus machen sich bereits Gedanken über eine gemeinsame Zukunft. Jedoch überschattet das zwanghafte, die Frauen zu Geburten zwingende Zukunftsgesetzt diese Pläne. Aufbruch nähert sich dem Thema Liebe aus der ungewohnten Perspektive des Überlebenskampfs, vollkommen ohne romantische Verklärung.
Außerdem fehlt ein eindeutiges Feindbild. Der Senat entscheidet – zunächst zumindest – im Einvernehmen mit der Bevölkerung East Meadows, als er das Zukunftsgesetz erlässt. Vor allem die Älteren, die die Apokalypse erlebt haben, glauben daran, dass darin die einzige Überlebenschance liegt. Unter den jungen Leuten, die nach der Vernichtung geboren wurden, macht sich verständlicherweise Skepsis breit, es entsteht die Widerstandsbewegung „Die Stimme“. Und selbst die vermeintlichen Tötungsmaschinen, die Partials handeln aus ihrer Sicht nachvollziehbar.
Das ist es, was den Autor Dan Wells bereits in der John Cleaver Trilogie auszeichnete, der tiefe Blick in des Monsters Seele, der für Protagonisten und Leser Überraschendes ans Licht bringt. Ähnliches deutet sich schnell im ersten „Partials“-Teil an und macht diesen Serienauftakt gleichermaßen spannend und tiefsinnig.
Dan Wells (perfekt übersetzt von Jürgen Langowski) schreibt mit leichter Hand in einer variantenreichen Sprache. Situationsbeschreibungen sind stets einprägsam, schon mit dem ersten Satz kommt der Autor direkt zur Sache:
„Das neugeborene Mädchen 485GA18M starb am 30. Juni 2076 um 6.07 Uhr morgens“ [S. 9]
Und trotzdem wirken seine Dialoge nie übertrieben düster, sondern zuweilen humorvoll und heiter. Dabei gleitet Dan Wells Stil nie in einen Jugendslang ab und liest sich trotzdem stets locker und flüssig. Selbst wissenschaftlich anmutenden Erklärungen sind zwar detailreich, aber nie langweilend beschrieben
Dan Wells erster Teil der „Partials“ Trilogie Aufbruch bietet clevere und spannende Unterhaltung mit spektakulär überraschenden Wendungen, besonders am Ende. Dabei verzichtet der Autor auf einige Motive, die man in fast jeder ´Young adult Dystopie´ findet, bereichert dafür seine Geschichte durch ungewöhnliche Einsichten zum Thema Liebe und Menschsein. Ein überaus fesselndes und zum Nachdenken anregendes Buch, dessen Fortsetzung (in Englisch bereits mit dem Titel „Fragments“ erschienen) man kaum erwarten kann.
Diese Rezension von mir, Eva Bergschneider, erschien bereits auf www.phantastik-couch.de
Partials - Band 1
Science-Fiction
Piper
2013
512
Funtastik-Faktor: 88%