Spannender Space-Thriller mit diversen Akteuren als Prequel und Fortsetzung der Goliath Chronik
Warum Ivan Ertlov den eigentlich abgeschlossenen und eigenständigen Space-Krimi „Generation 23“ nun zu einer Reihe namens „Goliath Chronik“ erweitert, wird im Vorwort erklärt. Zusammen mit der Warnung, den ersten Band zuerst zu lesen. Und das ist interessant – man braucht ihn nämlich nicht wirklich. „Brennende Kolonie“ ist eine vollkommen eigenständige Geschichte mit einer nie zuvor aufgetretenen Protagonistin, knapp 400 Jahre VOR dem ersten Band angesiedelt. Allerdings nimmt sie die große Wende, die bedeutende Überraschung von „Generation 23“ vorweg. Also sollte man den Rat beherzigen. Ich versuche, diese Rezension zu schreiben, ohne einen der beiden Bände zu spoilern. Und das ist kein leichtes Unterfangen.
Die letzten Menschen
61 Jahre nach dem Einschlag von PW-68 „Goliath“ auf der Erde, gibt es in unserem Sonnensystem nur noch eine einzige menschliche Siedlung: Die chinesische Marsbasis, poetisch „Himmlische Wolkenstadt“ getauft. Sie hat gegen jede Wahrscheinlichkeit überlebt. Während Millionen Menschen auf gigantischen Archen zu anderen Systemen unterwegs sind, hält die Volksrepublik im Miniaturformat die Stellung zu Hause. Als eine unbekannte Macht den Außenposten der Basis angreift und die lebensnotwendigen Gewächshäuser zerstört, steht diesem letzten Rest der Menschheit das Ende bevor. Senior Colonel Lin Fang, die Sicherheitschefin, setzt einen verzweifelten Hilferuf ab. Und tatsächlich, das Unerwartete und Unverhoffte geschieht: Hilfe kommt.
Die Zukunft ist bunt – und schwarz
Die Marauder, ein verloren geglaubtes Schiff aus der Vergangenheit vor dem Einschlag, bringt einen rettenden Engel mit dunklen Geheimnissen – Commodore Alessia Okoye. Die legendenumrankte Eliteoffizierin der einstigen Afrikanischen Union erscheint zusammen mit einer bunt zusammengewürfelten Crew aus Nepalesen und Indern, Südostasiatinnen und Afrikanern. Sie bringen neue Hoffnung, dringend benötigte Hilfsgüter und furchterregende Waffen. Aber das unerwartete Rettungsteam beschränkt sich nicht darauf, Hilfe zu leisten. Es ermittelt und versucht herauszufinden, welche dritte Macht die himmlische Wolkenstadt bedroht. Wappnet sich und die Basis gegen einen Krieg, der unvermeidbar scheint. Denn offenbar war der Mars am Ende doch nicht so unbewohnt, wie die Menschheit jahrhundertelang dachte.
Starke Story, noch stärkere Protagonistin
„Brennende Kolonie“ ist eine durchgehend spannende Geschichte, packend erzählt und mit einigen bewährten sprachlichen Kniffen des Autors verfeinert. Die Ödnis des roten (eigentlich orange-grauen) Planeten wird ebenso vorm geistigen Auge lebendig, wie harte Gefechte und bizarr-fremdartige Umgebungen. Aber vor allem überzeugt der Roman durch die Protagonistin Alessia Okoye. Diese ist trotz gemischten Erbes tief in der afrikanischen Kultur verwurzelt, scharfsinnig und vorausschauend, und somit das lebendige, spannende Gegenteil des typischen SF Protagonisten „weiß, männlich, mittleres Alter“.
Ihr Gegenüber, Lin Fang, ist wiederum in einer abgekapselt weiterentwickelten Form Han-chinesischer Kultur sozialisiert, lehnt sich aber gegen diese auf. Beide werden von Ertlov glaubwürdig geschrieben, nicht schlecht für einen weißen, männlichen Autor. Und die Beziehung zwischen ihnen, die aufbauenden Spannungen, ihre (Interessens-) Konflikte, der Moment, in dem sich diese entladen – das ist wirklich exzellent umgesetzt. Chapeau.
Thriller, Kampf und Politik
Sozial- und Gesellschaftskritik kommt diesmal subtiler, aber dennoch omnipräsent vor. Wir lesen Allegorien auf das Nord-Süd-Gefälle unserer heutigen Welt, überwunden geglaubter Rassismus bricht gelegentlich durch. Aber all das ist nur Zement im Mauerwerk einer packenden, teils auch brutalen Thrillerstory, in deren Verlauf sich die Protagonisten immer tiefer in immer abstrusere Theorien verstricken. Und der Tod an jeder Ecke lauert. Humor sucht man hier vergeblich, und die Gesellschaftsstruktur der „Volksrepublik China, marsianische Territorien“ hätte noch etwas mehr Tiefe vertragen. Hier wurde meiner Meinung nach zu viel dem Erzähltempo geopfert. Es ist nicht etwa so, dass hier etwas fehlt – alles ist in sich logisch und rund. Aber da wäre noch mehr gegangen.
Fazit:
„Brennende Kolonie“ ist ein intelligenter, spannender, durchwegs empfehlenswerter Science-Fiction Thriller, der den SF-Krimi „Generation 23“ würdig in der Vergangenheit fortsetzt. Für erwachsene Leser eine uneingeschränkte Kaufempfehlung. Ertlov-Fans werden jedoch den Humor der „Avatar“ Reihe vermissen. Ich persönlich hoffe, dass ein eventueller dritter Teil der „Goliath Chronik“ wieder etwas mehr dystopische Tiefe spendiert bekommt. Diese Chronik hat noch reichlich Potenzial.
DANKE an Gastrezensentin Tamara Yùshān
Goliath Chronik, Band 2
Science Fiction
Amazon KDP
September 2020
342
Ivan Ertlov
Funtastik-Faktor: 84
Was für eine Rezension!
Besten Dank dafür – und ja, ich stimme zu, bei der Dystopie wäre „noch mehr gegangen“, aber mir ging es hier mehr darum, diesen psychischen Abstieg der Crew in ihre eigenen (Verschwörungs-)Theorien zu skizzieren.
Freut mich, dass es gelungen ist!
Ja, das war etwas seltsam – es blieben zwar keine Fragen bezüglich des Endes und des Schicksals der Protagonisten offen wie bei Generation 23, dafür umso mehr in Bezug auf das Leben auf dem Mars zwischen dem Einschlag Goliaths und dem Eintreffen der Marauder. Wie hat das Politbüro so lange die Ordnung aufrecht erhalten? Welche Mitglieder der Gesellschaft durften wie viel über die Erde wissen? Wie sind die soziologischen Verbindungen und wie werden die Probleme aus dem Spannungsfeld zwischen Beziehung (jedem freigestellt) und Fortpflanzung (genau geregelt) bewältigt? Da hätten noch locker 50 Seiten reingepasst.