Eine Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten sollte
Iaret ist Haremsdame des Herrschers Secham im Wüstenstaat Niat. Wie viele Frauen in dem Land verfügt Iaret über magische Kräfte, das sogenannte Wüstenfeuer. Doch diese Magie ist ihr im frühen Kindesalter genommen worden, ein Siegel auf der Stirn verhindert dass Iaret die Kräfte des Wüstenfeuers nutzen kann. Und so lebt sie nun das Leben, das ihre Eltern für sie bestimmt haben, sie soll dem Herrscher Niats starke Söhne gebären und dazwischen ein nutzloses Leben im Harem verbringen.
„Vielleicht gibt es irgendwo noch ein anders Leben für mich.“ [S. 28]
Der Versuch die Magie zurückzuerhalten und dem Harem zu entfliehen, scheitert. Stattdessen wird das Siegel beschädigt und zur tödlichen Gefahr für Iaret. Sie landet im Kerker von Niat und ihr droht ein baldiger Tod.
75 Jahre später sitzt Ahat, der Sohn Sechams, bei einem Nomandenstamm in der Wüste am Feuer. In der Nacht erscheint eine junge Frau und stellt sich als Geschichtsschreiberin vor. Sie behauptet, dass die Geschichte des Reichs den einstigen Herrscher Secham zu negativ darstellt und verlangt, die Wahrheit zu hören. Auch sie trägt jenes Mal auf der Stirn, welches das Wüstenfeuer verbannt – freiwillig. Nach einigem Zögern erzählt Ahat ihr die Geschichte Iarets. Denn die scheint bereits in Vergessenheit zu geraten.
Fingerzeige in die Gegenwart in einer Geschichte aus 1001 Nacht
Fantasy-Geschichten, die in einer orientalischen Welt spielen, stehen gerade hoch im Kurs. Ob Akram El-Bahays Trilogie „Flammenwüste“ oder Markus Heitz „Wedora“, derzeit erscheinen viele Romane, deren Handlungen in der Wüste angesiedelt sind. Vor einer solchen Kulisse spielt auch der neue Roman von Andrea Bottlinger „Der Fluch des Wüstenfeuers“. Der Roman ist in eine Kernhandlung und in eine Rahmenhandlung untergliedert. Die Rahmenhandlung im Nomadendorf, innerhalb der die eigentliche Geschichte rückblickend erzählt wird, schildert Yasin als allwissender Erzähler. Er ist der Wahlbruder von Ahat, denn Yasins Vater Kalil nahm den geschassten Königssohn in seiner Sippe auf.
Ahat erzählt die Kernhandlung im Kerker aus seiner Perspektive in Ich-Form und aus Iarets Perspektive in dritter Person. Gewöhnungsbedürftig ist, dass Ahat sowohl Iarets eigene Gedanken (kursiv gedruckt), als auch die Erinnerungen an die dogmatischen Anweisungen ihrer Mutter als wörtliche Rede wiedergibt.
„Nein ist für Männer.“ Das hatte Iarets Mutter oft gesagt und wehmütig gelächelt dabei. „Pläne und Ziele sind für Männer. Du kannst Dich einfach treiben lassen. Die schweren Entscheidungen fällen andere für Dich. Ist das nicht schön?“ [S. 85]
Obwohl wir auf diese Weise tief in die Gedankenwelt der Protagonistin abtauchen, dauert es eine Weile, bis man ihr näher kommt. Iaret fehlen die Ecken und Kanten, die ihre Mitstreiter im Kerker die Mörderin Tehu und der Dieb Chen, sympathisch machen. Zum Charakter einer Tochter aus gutem Haus, die stets eingebläut bekam, sich fügen zu müssen und keine eigene Meinung haben zu dürfen, passt diese Distanziertheit. Als Iaret über sich hinaus wächst und Dinge tut, die sie verabscheut, wird ihre Persönlichkeit schließlich greifbarer.
Ahat lernen wir als jungen und alten Mann kennen und verfolgen, wie er sich vom temperamentvollen Kämpfer zum gereiften, geistreichen Kopf entwickelt.
In separaten Kapiteln wird jeweils das Wichtigste aus dem Leben der Protagonisten Ahat, Yasin, Tehu und Chen vorgestellt, wodurch sich der erste Eindruck relativiert wird und die Figuren vielschichtiger wirken. Besonders Tehu und Chen überraschen mit Witz, mutigen Aktionen und solidarischen Gesten.
„Der Fluch des Wüstenfeuers“ erzählt die Geschichte eines Gefängnisausbruchs, der nur gelingen kann, wenn die vier Protagonisten ein Risiko eingehen, dass für die Stadt Niat möglicherweise den Untergang bedeutet. Allerdings kann Iaret nur überleben, wenn sie Zugang zu ihren magischen Kräften bekommt. Es gilt also unter hohem Zeitdruck den unmöglich erscheinenden Ausbruch zu planen und gleichzeitig im Kerker mit seinen rigiden Machtstrukturen zu überleben. Im Mittelteil des Romans ziehen sich die Konfrontationen mit den Wärtern und Ramos, dem Unterweltkönig, in die Länge. Doch mit dem Eingreifen des Dschinn nimmt die Handlung wieder Fahrt auf und bleibt bis zum Finale spannend. Wie bei allen Figuren hat Andrea Bottlinger auch das vermeintliche Monster ambivalent gezeichnet. Eine weitere Rückschau in die Historie offenbart den Leidensweg dieser Kreatur.
Ob „Der Fluch des Wüstenfeuers“ als Analogie zu gesellschaftlichen Entwicklungen in unserer Zeit gedacht war, weiß ich nicht. Die Geschichte funktioniert jedenfalls als solche. Sie ist einerseits eine Art Parabel zur Emanzipation der Frau. Iarets Widerstand gegen ihre Erziehung erkämpft das Recht auf Selbstbestimmung stellvertretend für alle Frauen Niats. Andererseits darf man den Anfang des Romans als Mahnung daran verstehen, die Geschichte und historische Daten zu pflegen und im kollektiven Gedächtnis zu behalten. Die Geschichtsschreiberin trägt 75 Jahre nach den Ereignissen um Ahat und Iaret wieder jenes Mal für dessen Beseitigung die beiden so hart gekämpft haben. Und die Günstlinge des alten Königshofs versuchen, die Tyrannei unter Secham zu verklären. Wer denkt da nicht an sich derzeit etablierende politische Kräfte, die Teile der deutschen Vergangenheit lieber vergessen würden? So ist „Der Fluch des Wüstenfeuers“ nicht nur ein schön erzählter und mitreißender Fantasy-Roman, sondern eine intelligente und nachhaltige Geschichte, die viele Denkanstöße gibt.
Eva Bergschneider
Fantasy
Klett-Cotta/Hobbit-Presse
August 2016
367
Funtastik-Faktor: 78
Ein Gedanke zu „Der Fluch des Wüstenfeuers – A.S. Bottlinger“