Von den Göttern des Metall und den Helden der Arbeiterklasse
England im vorletzten Jahrhundert. Der berüchtigte Stadtteil Whitechapel ist ein eingezäuntes, kleines Reich inmitten Londons. Innen regiert der ‚Baron‘, draußen wartet die angespannte, britische Armee auf ihre Chance, Whitechapel wieder ins Empire einzugliedern. Im Moment aber stehen die wenigen Rebellen und Agenten des Empire in der ummauerten Stadt allein da. Und ihr Gegner ist übermächtig.
Nicht nur, dass der Baron und seine zwei Mechanik-Götter über jede Menge halb- und vollmechanische Handlanger, Spione und Soldaten verfügen. Die allein schon über Ausrüstung und Fähigkeiten verfügen, denen die Normalsterblichen kaum etwas entgegen zu setzen haben. Ganz zu schweigen davon, dass die ‚Kesselmänner‘ schlicht nicht zu töten zu sein scheinen. Nein, die Mechanik macht sich auch noch selbständig und grassiert als Krankheit, als ‚Klapper‘ unter der hungernden Bevölkerung. Nichtsdestotrotz geben unsere Protagonisten natürlich nicht auf, denn sie haben einen Plan. Und wenn nicht sie, dann irgend jemand anderes. Oder zumindest so etwas ähnliches wie einen Plan.
Endlich mal Steampunk mit ordentlich Dampf
Was auch immer der Plan ist – das Ganze hat definitiv Dampf. Von der ersten Zeile an, welche mit
„Dampfzischend schossen Mechanismen einen Stahlträger gegen die Tür, [..] “ [S. 5]
beginnt. Selten habe ich etwas so stimmungsvoll steampunkiges gelesen. Oder besser: etwas so industriell-morbides. Denn was Peters hier webt, ist nicht der glänzende Salonsteampunk der Cosplay-Conventions voller Ledercorsagen, Zylinder, Messingschmuck und völlig nutzlosen „Goggles“. Das ist keiner der üblichen Gaslicht-Urban-Fantasy-Romane, in dem sich der Steampunkanteil auf ein paar Zahnräder und das gelegentliche Gadget beschränkt. Er verdient sich den Namensbestandteil „punk“ zu Recht. Wenn in Peters’ Whitechapel Schweißer-Schutzbrillen getragen werden, dann, um die Augen vor der ätzenden Luft und der beißenden, nach verbranntem Motorenöl und Krematorium stinkenden Asche zu schützen, die hier pausenlos wie giftiger Schnee fällt. Lederkleidung ist kein Accessoire, sondern schützt vor rostigem Eisen, Verbrennungen und Bissen infizierter, halbmechanischer Ratten. Und Messing wird bei bloßem Kontakt mit der Luft schlagartig schwarz.
Dieses Whitechapel ist ein Alptraum, der keinen Jack the Ripper braucht (der dankenswerterweise außer auf dem Klappentext auch nirgends vorkommt). Es ist die industrielle Hölle, vor der von Dickens über Tolkien bis zu Chaplin alle warnten, ein Moloch aus Eisen, der die in ihm lebenden Menschen zu kaum mehr als Brennstoff degradiert und der sich als Geschwür in Londons Erde frisst, gegen den Mordor wie ein Gewerkschaftserholungsheim wirkt. Damit steht „Die Götter“ deutlich in der Tradition der „Differenzmaschine“ von Gibson und Sterling, könnte jedoch eine Menge der jüngeren Steampunk-Leser enttäuschen, die lediglich die romantisierteren Anteile des Genres kennen.
Schön verkorkste Charaktere, aber etwas wirre Story
Ein großer Pluspunkt der Geschichte sind die Figuren. Ob die Hure Missy, die schon mal aus Neugier einen potentiellen Kunden tötet oder der an der Klapper erkrankte Tommy, der auf dem besten Wege ist, den Rest seiner Menschlichkeit zu verlieren, ob der dauerfluchende Phineas oder der unter Schuldkomplexen leidende Rebell Oliver – alle Figuren haben Ecken und Kanten. Keiner davon ist einhundert prozentig sympathisch – oder nur im Vergleich zu ihren Gegenspielern. Aber gerade dadurch wirken sie echt und glaubhaft. Es gibt Superschurken in dieser Geschichte. Mehr als einen. Unter-, Ober- und Nebenschurken genauso wie zwielichtige Zwischendrin-Schurken. Aber es existieren hier keine Superhelden (sieht man vom toten Aaron ab, der selbst als mechanische Ratte noch eine heldenhafte Figur macht). Es gibt nur Leute, die sich trotz aller Zweifel, Unzulänglichkeiten und persönlicher Untiefen gegen das Schicksal stellen – und gegen die Götter selbst.
Hier kommt der vielleicht einzige wirkliche Kritikpunkt: die Götter. Sie sind schön erdacht, klar. Großvater Uhr, der durch jede Uhr in Whitechapel sehen kann und dem so nichts entgeht. Er steht für die absolute, uhrwerkartige Ordnung. Und Mama Maschine, die die zwingende Logik und den alles verschlingenden Fortschritt verkörpert. Glaube ich zumindest. So ganz klar wurde das nicht.
Genau das ist es dann auch: Etwas unklar. Niemand weiß, wo sie herkommen – und eigentlich auch nicht, was sie wollen, warum gerade in Whitechapel, wer da was gegen wen hat und warum überhaupt. Die Erklärungen, obwohl ansatzweise gegeben, sind reichlich wirr und driften zusehends ins unausgegoren Metaphysische ab. Dazu kommt noch ein dritter, etwas chaotischerer ‚Gott‘ in der Tiefe, bei dem gar nicht klar wird, was er will und für was er steht. Nur eben, dass er gegen die anderen ist. Aber da heißt es ja ohnehin jeder gegen jeden. Und schließlich ist da noch ein Mann, der zum Gott werden will anstelle der Götter. Aber der hat wenigstens einen Plan.
Großartiger Steampunk mit kleinen Schwächen
Diesen etwas wirren Hintergrund kann man jedoch glücklicherweise halbwegs ignorieren bzw. als gegeben nehmen. Wenn man sich stattdessen auf die eigentliche Geschichte um unsere Rebellen und ihren verzweifelten Befreiungskampf um Whitechapel konzentriert, dann erwartet den Leser ein stimmiges und außerordentlich stimmungsvolles Actionspektakel der Extraklasse. Und sicherlich eine weitaus größere Portion an ursprünglichem Steampunk, als ihn die meisten Romane, die unter diesem Label verkauft werden, bieten können.
Diese Rezension von Tom Orgel erschien bereits auf www.phantastik-couch.de. Sie wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht.
Eva Bergschneider
Steampunk
Feder & Schwert
2011
448
Funtastik-Faktor: 78