Atmosphärisch dicht und äußerst spannend
Der Wiener Kommissar Alexander Körner soll den brutalen Mord an einer Vierzehnjährigen aufklären. Ausgerechnet in Grein, seinem Heimatort, um den er seit 27 Jahren einen weiten Bogen macht. Doch Körner hat keine Wahl, da ihm ein Verfahren und die mögliche Suspendierung droht. Hat er sich doch von einem Verdächtigen die Dienstwaffe entwenden lassen. In der darauffolgenden Schießerei werden mehrere Beamte verletzt, bevor Körner den Schützen mit einem Schlag gegen den Kehlkopf ins Koma befördert.
Körner hegt einen abgrundtiefen Hass gegen Grein und seine Bewohner. Seit dem Verbrennungstod seiner Eltern, den er als Vierzehnjähriger hautnah miterlebte, hat er keinen Fuß mehr in die kleine Gemeinde an der Trier gesetzt. Bis die zerfetzte Leiche Sabine Krajnicks, genau an ihrem vierzehnten Geburtstag, in den Räumen der Dorfdiskothek gefunden wird. Während draußen strömender Regen niederrinnt, beginnen Körner und sein Team zu ermitteln. Erste Verdächtige präsentieren sich schnell, doch auch erste Irritationen machen sich breit. Denn es sieht so aus, als wäre Sabines Rückgrat von innen heraus zerfetzt worden. Wie sich bald herausstellt, war sie nicht die erste Jugendliche, die an ihrem vierzehnten Geburtstag unter mysteriösen Umständen starb. Der Kreis der Verdächtigen wird immer größer. Bald steht das ganze Dorf im Mittelpunkt der Ermittlungen, allen voran die Honoratioren der kleinen Ortschaft. Dass die andauernden Regenfälle die Trier über die Ufer steigen lassen, sämtliche Brücken weggerissen werden und die Ermittler in Grein festsitzen, macht die Arbeit nicht einfacher. Vor allem, als klar wird, dass die Ursprünge des Falls Jahrhunderte zurück liegen.
Außerdem stellt sich die Frage, was es mit dem Stolleneinsturz aus dem Jahre 1937 auf sich hat, der etwas freilegte, das tief unter der Erde lebt und nun mit Gewalt nach oben strebt? Körner und seine Mitarbeiter sitzen tiefer im Morast, als es selbst die permanenten Sturzfluten um sie herum vermuten lassen. Es wird weitere Tote geben – und unangenehme Wahrheiten. Denn auch Körners Tochter, die bei seiner geschiedenen Frau im Nachbarort lebt, steht kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag.
Ein apokalyptisches Finale
Eigentlich können wir es kurz machen: Andreas Gruber hat mit seinem Debüt einen atmosphärisch dichten (das wollte ich immer schon mal schreiben), äußerst spannenden Roman verfasst. „Der Judas-Schrein“ beginnt vermeintlich als Polizeiroman, mit einem gebrochenen Protagonisten im Mittelpunkt, der auf dem schmalen Grat zwischen Heldentum und finalem Absturz wandelt, um anscheinend als letzte Bewährungsprobe, einem brutalen Serienkiller das Handwerk legen zu dürfen. Ein Trugschluss, denn klammheimlich verändert sich die Geschichte zu einem phantastischen Exkurs in eine sinistere Welt, in der das wahre Grauen nur wenige Erdschichten bzw. Zentimeter entfernt haust.
Dabei gelingt es Gruber, durch die mehr als ambivalente Beziehung, die Körner zu seiner Geburtsstätte hat, eine alptraumhafte Stimmung aufzubauen, die nie aus den Augen verliert, dass der wahre Horror von Menschen ausgeht, die jenen geradezu verwunschenen Ort bevölkern und sich einem monströsen Willen beugen.
So schafft Gruber bereits zu Beginn eine klaustrophobische, angsterfüllte Atmosphäre, die dem pittoresken Örtchen Grein, auch bedingt durch die permanenten Regenfälle, einen schmerzbehafteten, schmutziggrauen Anstrich voller angsteinflößender Symbole gibt. Vergleichbar mit dem Silent Hill des Films, in dem Regisseur Christophe Gans die Verlorenheit des Ortes durch die beständig rieselnde Asche betont. Hier wie dort existiert eine verschworene Gemeinschaft, die ein grausames Geheimnis hütet. Doch während die lebenden Toten Silent Hills das Geheimnis unter Verschluss zu halten versuchen, möchten es die Bewohner Greins hinaus in die Welt tragen. Gegen jeden Widerstand.
So spitzt sich die Situation der eingekesselten Beamten mit jedem Schritt, den sie der Wahrheit näher kommen, auf bedrohliche Weise zu. Gruber vermeidet allzu drastische Finten, er lässt den Schrecken, die infinite Bedrohung langsam ansteigen, bevor sie in einem apokalyptischen Finale ihren wahren, menschenverschlingenden Charakter entblößt. Dabei bleibt er dicht an seinen Figuren dran, gesteht ihnen gerade in Zeiten des größten Wahnsinns menschliche Züge zu, die gelegentlich mit sachter Ironie und einem süffisanten Spiel mit sattsam bekannten Klischees verzuckert werden. So ist fortwährender Inzest nicht nur ein Problem für die abgeschottete menschliche Gemeinschaft …
Kleine Schwächen können den Horror nicht schmälern
Nur wenige Schwächen gibt es zu bemängeln. So wird nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass die Akkus sämtlicher Handys in Polizeibesitz zur Neige gehen, doch niemand kommt auf die Idee, in Grein oder dem Nachbarort Heidenhof auf die Suche nach Ladegräten zu gehen, geschweige denn einfach Mobiltelefone der Einwohner zu requirieren.
Dass Gruber nachdrücklich auf das Universum H.P. Lovecrafts Bezug nimmt, ist zwar stimmig, sein Roman hätte aber die Kraft für die Errichtung einer eigenen Legende gehabt. Oder zumindest eine in Österreich geborene ausborgen können. Schwer vorstellbar, dass in einer Welt, in der viele Geschichten über Jahrhunderte durch Hörensagen weiter getragen wurden, keine eigenständigen Mythen und phantastischen Erzählungen entstanden sein sollen.
Aber das sind nur Kleinigkeiten, die den Horror, der scheinbarer Beschaulichkeit innewohnt, nicht schmälern. Gruber besitzt genügend Eigenständigkeit und das Können, seine unheimliche Untergangsvision nachvollziehbar, spannend und konsequent auf’s Papier zu bannen. Ein verdammt starker Debütroman, der es geschickt vermeidet, allzu offensichtlich jenseits des Ozeans zu schielen. Mehr davon!
Diese Rezension von Jochen König erschien bereits auf www.phantastik-couch.de. Sie wurde hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht.
Horror
Luzifer-Verlag
2005/2016
463
Funtastik-Faktor: 83