Exit this City – Lisa-Marie Reuter

Spannende, überdrehte und exzellent geschriebene Climate-Fiction

Exit this City - Lisa-Marie Reuter © Fischer Tor, blauer Hintergrund, Silhouette einer Metropole, Biene im Vordergrund, gelbe Schrift
Exit this City © Fischer Tor

Wir schreiben das Jahr 2158. Die Weltwirtschaft hat Indien zum Gewinner auserkoren, dass sich mit Geld aus innovativer IT an die Spitze der Ersten Welt gesetzt hat. Infolge konsequenter Abschottung verlor Europa den Anschluss an die Weltwirtschaft. Der mächtige indische Konzern Final-Food lässt in Deutschland natürliche Lebensmittel (Realfood) produzieren, die zu hohen Preisen an die Reichen verkauft werden. Den Rest der Welt speist Final-Food mit „Smartfood“ ab, künstlich hergestelltem Essen. Die Klimakatastrophe sorgt in Indien für eine Hitze, die ohne Thermoanzüge nicht zu überleben ist, in Deutschland für massive Regen- und Trockenperioden. Um dennoch Agrarprodukte produzieren zu können, entstand in den Laboren von Final-Food die Z.O.M.Bee, die die Pflanzen extrem effizient bestäubt. Der Stich dieser Biene ist jedoch tödlich, was für die Feldarbeiter:innen zum permanent lebensbedrohenden Zustand eskaliert. Kein Wunder, dass diese aufbegehren.

Die charismatische Inderin Veeru führt diesen Aufstand an und wird von ihren Followern wie eine Göttin verehrt. Sie überlebte weltweit als Einzige den Stich einer Z.O.M.Bee. Die zurückgebliebene marmorähnliche Haut und ihre permanente Präsenz im Stream manifestieren ihren Status als Lichtgestalt. Ihr zur Seite steht Paksha, deren Inselheimat vom Meer weggespült wurde. Medienwirksam nahm Plantagenbesitzer Sonny das Waisenkind im Main-Sektor auf, bevor Veeru sie in ihre Revolution integrierte. Das Ziel ist die Plantagen des Main-Sektors wieder in den Besitz der ansässigen Landarbeiter:innen zurückzugeben. Oder steckt mehr hinter Veerus Marsch durch den Dauerregen nach Residenz-City (Würzburg), dem Edeldomizil für Reiche und Sitz der deutschen Distribution von Final-Food?

Marti ist Kurierfahrer und liefert Realfood an die reiche Oberschicht in Delhi. Er hat sein Gedächtnis verloren und glaubt, ein Außerirdischer zu sein, der im Körper eines Erdenbewohners steckt. Sein Raumschiff liegt defekt auf einem Schrottplatz und Marti möchte es reparieren und davonfliegen. Möglichst bevor der gewaltige Sandsturm Taimur Delhi erreicht und radioaktive Verseuchung mitbringt. Martis Begleiter ist Ray, ein stets hungriger Mischlingshund. Warum kann Marti mit ihm reden? Und warum sind ihnen europäisch aussehende Verfolger auf den Fersen?

Doch allmählich kenne ich meinen Exilplaneten gut genug, um die vielen Facetten des Wahnsinns voneinander unterscheiden zu können. Affen, die Schutzgeld erpressen: alltäglicher Wahnsinn. Sprechenden Hunde: außerordentlicher Wahnsinn. Besser, ich bleibe auf der Hut. „Sag mal, wie heißt Du eigentlich?“

S. 27

Zwei Handlungsebenen werden ein großes Ganzes

Der Einstieg in „Exit this City” ist nicht gerade einfach. Lisa-Marie Reuter geht direkt in medias res und führt Lesende in keinster Weise in ihre komplexe Welt ein. Abwechselnd erzählen Paksha und Marti die turbulenten Ereignisse um sie herum, Paksha rückblickend als personale Erzählerin, Marti als Ich-Erzähler in der Gegenwart. Den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind jeweils ein Begriff aus dem Sanskrit und dessen Übersetzung, sowie eine Zeitangabe, beides zu den folgenden Geschehnissen passend.

Paksha und Veeru machen sich also mit ihrer Anhängerschar nach Residenz-City auf, kämpfen gegen die Sintflut und gegen Final-Food. Martis Handlung ist zunächst weniger zielgerichtet. Zuerst begleiten wir ihn in seinem Job als Kurierfahrer und schließlich auf der Flucht vor Verfolgern. Als Sympathieträger funktioniert Paksha nicht so gut, wie Marti. Ihre persönliche Motivation, sich Veerus Revolution anzuschließen, erschließt sich erst ganz zum Schluss. Marti hingegen verzaubert mit seiner zunächst abstrusen Sicht der Dinge und entwickelt sich zur Schlüsselfigur. Mit seinem Begleiter, dem sprechenden Hund Ray, hat Lisa-Marie Reuter nicht nur den coolsten Protagonisten des Romans erschaffen, sondern sogar den überraschendsten.

Die beiden Handlungsebenen haben am Anfang scheinbar nichts miteinander zu tun. Allerdings streut die Autorin geschickt immer mehr Hinweise auf das große Ganze ein. Oft versteht man sie erst im Nachhinein, was einen faszinierenden Aha-Effekt auslöst. Je mehr die zeitliche Differenz der Handlungsebenen abnimmt, desto mehr ergänzen sie sich, fügen sich zu einem dramatischen Gesamtbild.

Über Konzernherrschaft und Revolution

Nach und nach erarbeiten sich Lesende Lisa-Marie Reuters Welt nach dem Klimakollaps und einer Neuordnung der Weltwirtschaft. Über individuell gestaltete vLinks sind die Menschen permanent im Nexus, einer Weiterentwicklung des Internets. Kommunikation und Konsum findet zum großen Teil hier statt. Weiterentwickelt hat die Autorin auch die Schattenseiten dieser allgegenwärtigen Vernetzung. Ein großer Teil derjenigen, die mit Final-Food zu tun haben, sind mit ihren B-Waves (Gehirnwellen) direkt an die KI von Final-Food angeschlossen. Wer sich dagegen auflehnt, bekommt es schon bald mit Kontrollmechanismen zu tun.

Sie sah alle Elemente des Spektakels deutlich vor sich – rätselhafte Seuchen, wundersame Heilungen und tragische Todesfälle, Revolution, der Traum von einer besseren Zukunft [..] Götter auf Erden, Robin Hood. Nur der Ausgang – Katastrophe oder Happy End – lag noch dort draußen in der Finsternis verborgen, [..].  

S. 84

Futuristisch und erschreckend realistisch

Lisa-Marie Reuter studierte Sprachen und Kultur Indiens und bereist das Land so oft sie kann. Vor allem in den Delhi-Szenen spürt man die Liebe der Autorin für den Subkontinent und ihr breites Wissen darüber. So konnte sie die Zukunft Indiens nach dem Klimakollaps anschaulich und erschreckend realistisch beschreiben. Die extreme Hitzewelle im Frühjahr 2022 ließ in Indien Stromnetze kollabieren. Von dem Punkt aus ist es bis zum notwendigen Gebrauch von Thermoanzügen nicht mehr weit.   

Doch auch das beschriebene Wetterextrem in Deutschland, das Regentief Magdalena, kommt uns erschreckend bekannt vor. So lange sind die verheerenden und zerstörerischen Hochwasser in Eifel und Ahrgebiet schließlich noch nicht her.

Selbst die beschriebene Allmacht des Konzerns, eines Chemie/Biotechnologie/Pharma- Riesen, erscheint nicht weit hergeholt. Die Monopolstellungen von Monsanto, beziehungsweise jetzt Bayer, oder Google lassen grüßen, beide Konzerne zusammengedacht ergeben Final-Food. Lisa-Marie Reuters drastische Version einer nahen Zukunft entwickelt bereits vorhandene Wetterlagen und gesellschaftliche Strukturen weiter und erschafft so ein erschreckend realistisches Bild.

Lebendiger und prägnanter Schreibstil

„Exit this City“ gehört zu jenen Büchern, die man schon wegen des außergewöhnlich schönen Schreibstils lesen sollte. Lisa-Marie Reuter schreibt so nah an den Figuren, wie es nur geht und verleiht jeder eine absolut originäre, unverwechselbare Erzählstimme. Darüber hinaus beschreibt sie Aktionen und Schauplätze detailverliebt, dynamisch und lebendig. Sie erzeugt einfach Kopfkino pur. Dadurch wirkt manche Szene erdrückend düster oder schrill überzeichnet, andere hingegen warm, herzlich und heiter. Überaus gelungen sind die Dialoge zwischen Marti und Ray. Vor allem dem Hund legt sie eine wunderbare prägnante und witzige Sprache ins Maul, die perfekt zu dem klugscheißenden und Leckerli-süchtigen Vierbeiner passt. Diese Interaktionen sorgen dafür, dass sich „Exit this City“ längst nicht so schwermütig liest, wie die apokalyptische Handlung vielleicht vermuten lässt. Ray sorgt mit trockenem Humor dafür, dass es immer mal wieder Schlagabtausche zum Schmunzeln und Lachen gibt.

Einige Details nicht schlüssig

Die wichtigsten und verwirrendsten Mysterien werden schlüssig aufgelöst. Für Veerus und Rays und sogar für Martis Geheimnisse gibt es einen logischen und aufschlussreichen Grund. Dennoch ließen mich ein paar Details etwas ratlos zurück. Dazu gehören die Wirkung der Z.O.M.Bee-Stiche, die Verknüpfung der B-Waves oder auch die Funktionsweise der KI bleibt größtenteils im Verborgenen. Hier hätten ein paar mehr Details die Geschichte noch runder und plausibler gemacht. Insgesamt kommt dieses mutige und etwas verrückte Setting allerdings erstaunlich schlüssig herüber.

Fazit

„Exit this City“ ist ein Buch mit „Wow“-Effekt. Lisa-Marie Reuter hatte den Mut, in ihrem Roman ein Nicht-US – oder eurozentrisches Wirtschaftsgefüge zu etablieren und daraus eine spannende und nachdenkenswerte Geschichte zu kreieren. Durch einen guten Schuss Humor erhält diese ernste Thematik eine gewisse Leichtigkeit und nimmt sich nicht zu ernst. Dazu überrascht das Finale mit exzentrischen Wendungen. „Exit this City“ ist ein Climate Fiction Roman, der neue Akzente ins Genre bringt und damit anregend unterhält.

Eva Bergschneider

Exit this City
Lisa-Marie Reuter
Science Fiction
Fischer Tor
Februar 2021
Buch
432
Nele Schütz Design
87

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