Freie Geister – Ursula K. Le Guin

Mit beinahe Lichtgeschwindigkeit in die Freiheit

Freie Geister-Ursula K. Le Guin, Übersetzung Karen Nölle © Fischer-Tor
Freie Geister © Fischer-Tor

Die Bewohner des Planeten Anarres sind einst als Dissidenten vom Nachbarplaneten Urras geflohen. Die Anhänger des Revolutionsführers Odo wollten frei werden von Besitz, Macht, Gesetz und Hierarchie. Alle Anarresen arbeiten gemeinsam daran, in der unwirtlichen Umgebung des Wüstenplaneten zu überleben. Anarres bleibt jedoch vollkommen abgeschottet vom Rest des Universums, nur einmal im Jahr wird abgebautes Erz nach Urras transportiert. Die interstellare Kommunikation ist auf ein Minimum beschränkt.

Shevek ist Physiker, er forscht auf dem Gebiet der allgemeinen Feldtheorie der Zeit. Die akademische Welt auf Anarres sieht keinen Nutzen in seinem Werk. Trotzdem ist Shevek glücklich in seiner Heimat. Seine Arbeit ist für ihn Berufung und er hat in Takver eine Geliebte und Partnerin gefunden. Bisweilen trennen sie sich und arbeiten im Outback, um ihren Beitrag zur Solidargemeinschaft zu leisten. Doch Shevek wünscht sich immer mehr, das er seine wissenschaftlichen Arbeiten allen Völkern im Universum zur Verfügung stellen darf. Gelingt ihm das auf Urras, der Welt der die Odonier den Rücken gekehrt haben? Urras bedeutet Bourgeoisie und Proletariat, Habgier und Unterdrückung. Doch Urras ehrt Sheveks Theorien und lädt ihn ein, an der Universität von Jeu Eun sein Werk zu vollenden.

Ein SF Klassiker, drei deutsche Übersetzungen und drei Titel

Ursula K Le Guin hat viele Geschichten, Gedichte, Romane und auch Sachbücher geschrieben, doch zwei ihrer Werke wurden besonders populär: die Erdsee-Bücher und der Hainish-Zyklus. Die Utopie »Freie Geister« gehört zu letzterem, der Roman erschien 1974 mit dem Titel »The Dispossessed«.1976 folgte die deutsche Übersetzung »Planet der Habenichtse« und 2006 eine überarbeitete Neuausgabe mit dem Titel »Die Enteigneten«. Vom Fischer-Tor Verlag liegt nun eine weitere Neuübersetzung von Karen Nölle vor, die den mutigen weil gänzlich anderen Titel »Freie Geister« trägt. Man wollte mit der Titelwahl sicherlich dem wesentlichen Thema geistige Freiheit Rechnung tragen. Zudem schwingt in den vorherigen deutschen Titeln eine negative Konnotation mit, die dem Geist des Romans widerspricht.

Augenzwinkern und konkrete Worte

Die Wahl der richtigen Worte ist ein wesentlicher Aspekt in vielen von Ursula K Le Guins Romanen. In Erdsee kommt der Ur-Sprache der Drachen eine besondere Bedeutung zu, weil sie die Essenz der Dinge einfängt und nicht lügen kann. Die Bewohner von Anarres haben eine von ihrer Ideologie geprägten Sprache entwickelt. Weil es weder Besitz, noch Hierarchien gibt, fehlen Possessivpronomen wie »mein«, »dein«, »unser«, sowie sämtliche Titel, akademische Grade und Familiennamen. De Gedanke inwiefern die Sprache eine Gesellschaft prägt, verbirgt sich dahinter (George Orwells Neusprech in »1984« lässt grüßen). Die zwei unterschiedlichen politischen Systeme hat die Autorin überzogen und augenzwinkernd dargestellt. So spricht der Diener, der Shevek auf Urras versorgt, mit ihm gebrochen, obwohl er flüssig reden kann. Extrem sexistisch wirkt die Darstellung der Frauen auf Urras, die sich mit entblößten Brüsten und geschorenem Kopf präsentieren. Die organisatorischen Strukturen auf Anarres, spiegeln dagegen die absurden Aspekte der sozialistischen Planwirtschaft wider. Im Kopf des Lesers entstehen klischeehafte Bilder der beiden Gesellschaften, die sich im Lauf der Handlung relativieren. Freien Geist und die Überwindung von Grenzen finden wir also nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Art, wie sie geschrieben wurde.

Mensch, Physiker, Weltenverbesserer?

Wir folgen Shevek auf seinem Weg auf zwei Handlungsebenen, die abwechselnd erzählt werden. Die erste beginnt mit seinem Übertritt der einzigen physischen Grenze auf seinem Heimatplaneten, der Mauer um den Raumflughafen auf seiner Reise zu Urras. Die zweite beginnt mit seiner Kindheit und erzählt chronologisch Sheveks Leben und Erfahrungen bis zu dem Punkt, an dem er Anarres verlässt. Dass die Geschichte aus seiner Sicht erzählt wird, verleiht den politischen und wissenschaftlichen Gedanken etwas zutiefst menschliches. Shevek ist ein überzeugter Odonier und lebt strikt nach dem Solidaritätsprinzip. Trotzdem gerät er schon als Kind an die Grenzen dieser Ideologie, weil sein wissenschaftliches Denken keine Grenzen zulässt. Einsteins Relativitätstheorie beschreibt, dass Zeit sich in Abhängigkeit zur Geschwindigkeit verändert, während die Lichtgeschwindigkeit konstant ist. Für die Raumfahrt bedeutet es, dass Zeit gedehnt wird (Zeitdilatation), wenn sich ein Raumschiff mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegt. Der Passagier an Board altert langsamer, als sein auf dem Planeten verbliebener Zwillingsbruder (Zwillingsparadoxon). Sheveks Forschungen zur Simultanität soll eine Informationsübertragung ohne Zeitverlust ermöglichen, also die Grenzen der Zeit überwinden. Für Planeten, die Raumreisen in ferne Galaxien unternehmen, sind diese nützlich. Für das isoliert lebende Anarres erscheinen sie überflüssig und sprengen den ideologischen Rahmen.

Parabel über die politischen Systeme Kapitalismus und Sozialismus

Der Roman entstand während des kalten Krieges, also in einer Zeit, in der die politische Landschaft von den Gegensätzen der Systeme Kapitalismus und Sozialismus geprägt war. »Freie Geister« transferiert diese Konstellation in ein Sonnensystem mit mehreren Völkern, denen interstellare Raumfahrt zur Verfügung steht. Die Frage, welches politische System das bessere ist, hat die Nachkriegsgeneration in Deutschland umgetrieben. Letztendlich hat die Zeitgeschichte ihr Urteil gefällt, als Scharen von Deutschen aus dem Arbeiter- und Bauernstaat DDR über die Botschaften in die kapitalistische BRD flohen. Bevor jedoch die deutsch-deutsche Grenze zu einer scharf bewachten, undurchlässigen Trennlinie wurde, gab es Menschen, die bewusst aus der BRD in die DDR gingen. Ursula K Le Guin nähert sich in »Freie Geister« dieser Frage angenehm ambivalent, einen erhobenen Zeigefinger und jegliche Suggestion vermeidend.  Die Autorin skizziert eine Gesellschaft auf der Grundlage von Solidarität und Gleichheit auf der einen Seite, die jedoch der Individualität massive Grenzen setzt. Im Gegenentwurf dominieren Gewinnstreben, Egoismus, soziale Ungerechtigkeit, jedoch mit Zwischenräumen für Individualität.

Die Moral von der Geschicht verrät sie nicht

Ursula K. Le Guin bleibt in »Freie Geister« der wertungsfreien Erzählweise bis zum Ende treu. Es gibt keine Auflösung, keine Schlussfolgerung. Der Leser hat gute und schlechte Erfahrungen in beiden Welten mit Shevek geteilt. Er mag dessen Ausbruch aus der Heimat, bei dem er Frau und Kinder zurückgelassen hat, beurteilen oder auch nicht. Natürlich prägt der Zeitgeist der 70er Jahre die Geschichte über »Freie Geister«. Trotzdem sie ist zeitlos und auf vielfältige Weise inspirierend. Le Guin macht es uns manchmal nicht leicht, Sheveks Vorlesungen in theoretischer Physik zu verfolgen, auch manch philosophischer Exkurs erfordert mehrmaliges Lesen. Doch die wenigen, etwas sperrigen Passagen schmälern das Lesevergnügen kaum. Es überwiegen schlichte und schöne Formulierungen mit Dialogen, die komplexe Themen klar und konkret beschreiben. Auch ohne den Originaltext zu kennen denke ich, dass Karen Nölle Le Guins Erzählart treffend und authentisch in die deutsche Sprache übertragen hat. »Freie Geister« ist phantastische Unterhaltungsliteratur auf höchstem Niveau, geschmückt mit elementaren gesellschaftspolitischen und philosophischen Gedanken.

Eva Bergschneider

 

Freie Geister
Hainish-Zyklus
Ursula K. Le Guin (Übersetzung: Karen Nölle)
Science-Fiction
Fischer-Tor
Januar 2017
432

Funtastik-Faktor: 88

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