Epische Schlachten, Gags & religiöser Fanatismus
Der verschwundene Mond
Nach einem mutagenen Krieg in „Mutation“ und der Verschwörung um ein Siedlerschiff in „Todessprung“ geht es im dritten Band der Avatar Reihe ans Eingemachte. Der Jupitermond „Ganymed“ verschwindet spurlos vor den Augen und Ohren der im Sonnensystem weit verbreiteten Menschheit. Mitsamt allen Bergbauspezialisten, deren Familien und anderem Personal. John Harris, der eigentlich gerade ebenso verzweifelt seine Spiritualität sucht wie seine Kommandantin Colonel Alice Winston aufregende erotische Abenteuer, muss wider Willen ermitteln. Ihnen zur Seite stehen Fredderick von Schwein sowie Dr. Martin Wong, stellvertretender Minister der systemweit verhassten korechinesischen Kartellregierung.
Neue Erkenntnisse zwingen diese ungewöhnliche Crew bald dazu, einen Sprung in eine der Menschheit unbekannte Welt zu wagen. Jenseits der Reichweite des Bubblejumps, des primitiven Überlichtantriebs der Avatar. Eigentlich jenseits der Reichweite aller menschlichen Technologie. Die Rückkehr scheint unwahrscheinlich, es handelt sich im wahrsten Sinne des Wortes um einen Sprung des Glaubens. Also, so wie bei Indiana Jones, nur tausend Lichtjahre weit statt auf eine Glasbrücke.
Ivan Ertlov wie wir ihn kennen und mögen
Glaube ist das Stichwort hier – oder besser gesagt, Religion. Denn Alice, John und ihre Begleiter finden sich rasch zwischen den Fronten eines handfesten Religionskrieges wieder. Und hier spielt Ertlov seine Stärken aus: Keine Erzählung hat es bisher geschafft, so geschickt zwischen brüllend komisch und abgrundtief erschütternd zu navigieren. Zwischen tiefen, philosophischen Betrachtungen, ungezwungen humorvollen Szenen und packenden Schlachten, teilweise sogar Gewaltexzessen. Der Konflikt, in den die Avatar Crew hineingezogen wird, kann als Parabel auf Schiiten gegen Sunniten, Katholiken gegen Protestanten, Juden gegen Moslems verstanden werden. Wenn man will. Und nur in der Avatar Reihe kann es passieren, dass die Protagonisten nur wenige Seiten nach Witzen über freischwingende FKK Badegäste und asiatische Penislängen im Albtraum eines grauenvollen, religiösen Hassverbrechen landen. Und trotzdem alles taktvoll, schlüssig, wie aus einem Guss wirkt.
Ansonsten serviert Ertlov das Erwartete: Mehrere gut inszenierte Raumschlachten, tiefsinniger Humor und etwas Slapstick, packende Kampfszenen Mann gegen Mann. Oder Alien gegen Mann, Alien gegen Alien, Alien gegen Schwein. Dazu treffsichere Dialoge, tiefschürfende Gesellschaftskritik, aufwühlende Worte seines Ich-Erzählers John Harris. Was mich besonders beeindruckt hat: Obwohl Autor und Protagonisten mit der organisierten Religion und ihrem Missbrauch hart ins Gericht gehen, begegnen sie Glauben und Spiritualität sensibel und respektvoll. Es gibt kein pseudointellektuelles Bashing jenseitiger Erfahrungen. Chapeau.
Kleine Wermutstropfen
So gelungen Ganymed, Gone auch ist – das ‚perfekte‘ Buch hat Ertlov diesmal wieder nicht abgeliefert. Zum einen fehlt durch die Beschränkung auf einige wenige, wenn auch exotische Schauplätze das Schnitzeljagdfeeling. Die herrlich abstrusen Erkundungstouren durch Vietnam, Österreich, England, Afrika, Mondstädte und Mars-Spelunken der ersten beiden Bände machten einen Gutteil ihres Charmes aus. Das fällt hier flach. Zum anderen ist es bereits der Beginn eines Schwanengesangs. In zahlreichen Andeutungen, Dialogen und auch Gedanken der Protagonisten wird klar, dass sich das Abenteuerleben von Alice, John und Fredderick dem Ende zuneigt. Das erzeugt eine gewisse Melancholie, die nicht jedem Leser gefallen wird.
Das Fazit
Ertlov schafft mit seiner Avatar Reihe das Kunststück, auch jene Leser zu fesseln, die sonst mit Science-Fiction nichts am Hut haben. Und gleichzeitig die alten Hasen und Genre-Veteranen zu begeistern. Dass sie offenbar in absehbarer Zukunft einem Ende zusteuert, ist schade. Denn „Ganymed, Gone“ ist nichts weniger als ein Meisterwerk gleich mehrerer Genres. Vor allem aber eine spannende, lustige und manchmal sogar verstörende Science-Fiction Abrechnung mit Fanatismus, Gier und Machthunger. Eigentlich zutiefst menschlichen Eigenschaften.
Danke! an Gastredakteurin Tamara Yùshān
Avatar-Reihe, Band 3
Science-Fiction
Amazon Media
Oktober 2019
367
Funtastik-Faktor: 89
Ich bedanke mich für diese Rezensionen.
Und im übrigen bin ich der Meinung, dass es kein perfektes Buch gibt 😉
Gerne! Und der Meinung bin ich übrigens auch. 😉 LG, Eva