Ein seltsamer Typ und eine Spoilerwarnung
Ted Bannerman lebt mit seiner Katze Olivia im „Last House on Needless Street“, am Ende einer Sackgasse. Er hat einige Probleme, ist arbeitslos, trinkt zu viel, befindet sich in Therapie. Seine psychische Konstitution scheint mindestens angeschlagen. Irgendetwas Schreckliches ist vielleicht vor vielen Jahren geschehen und hat ihn traumatisiert. Er war einmal verdächtig in einem Fall, in dem es um ein vermisstes Mädchen namens Laura ging. In der Ortschaft ist er ein Außenseiter, hin und wieder Opfer von Übergriffen. Er hat ein paar seltsame Angewohnheiten, darunter die, tief im Wald vergrabene Götter zu besuchen. Ted glaubt, dass es in der Nachbarschaft einen Mörder gibt, der vielleicht auch er sein könnte.
Gelegentlich kommt seine Tochter Lauren von woher auch immer auf einen Kurzbesuch vorbei und verschwindet dann wieder für Wochen. Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist angespannt bis aggressiv. Als eine Frau namens Dee das Haus nebenan bezieht, verschärfen sich Teds Probleme. Dee ist auf der Suche nach ihrer Schwester Laura, die vor Jahren entführt wurde.
Wer Spoiler nicht mag, sollte die Rezension nicht weiterlesen. Der Roman ist so konstruiert, dass man kaum sinnvoll über ihn schreiben kann, ohne auf seine Themen zumindest kurz einzugehen.
Ein Wegweiser soll in die Sackgasse führen
Nach der Lektüre weniger Seiten von „The Last House on Needless Street“ verdichtet sich die Annahme, dass etwas nicht stimmt. Es handelt sich um einen Horrorroman, aber gruselig ist hierin bis auf Ted nicht viel. Stattdessen wird der Inhalt als irritierend wahrgenommen. Ward spielt mit Erwartungen und arbeitet mit Horror-Tropen, die sie beiläufig unterwandert.
Im Grunde ist nicht viel klar in dieser Erzählung, die eine Aufforderung zu enthalten scheint, alles infrage zu stellen. In Abständen liefert die Autorin Informationen, die wie ein Wegweiser für das Verständnis wirken. Die Ausgangskonstellation und ein paar dieser Informationen legen nahe, dass die Verbindung zwischen Ted und Dee die entführte Schwester sein kann. Aber dann geschehen seltsame Dinge. Eigenartige Wesen tauchen in Teds Dachgeschoss auf. Wir überlegen, warum Lauren ihren Vater ab und zu besucht: damit das Personal angereichert wird, weil sie in irgendetwas verwickelt ist, oder weil sie einen Aspekt der männlichen Hauptfigur aufdecken beziehungsweise hervorheben soll?
Eine Katze mit Persönlichkeitsstörung?
Dann ist da noch Olivia. Wäre sie nur eine Katze, könnte sie wohl nicht lesen und sprechen, an Gott glauben, oder eine dissoziative Identitätsstörung aufweisen. Natürlich ergibt die Katze einen Sinn in der Welt der Erzählung. Aber dies wird erst später klar.
Eine dissoziative Identitätsstörung, auch bekannt als Multiple Persönlichkeitsstörung, ist eine schwere psychische Störung, die bewirkt, dass die erkrankte Person (oder Katze) ihr Selbst wie auch ihre bekannte Lebensumwelt als fremd oder unwirklich wahrnimmt. Verschiedene (Teil-)Persönlichkeiten bestimmen wechselweise und nicht steuerbar das Verhalten eines betroffenen Menschen.
Zu dieser Störung passt es, dass Ward mit unzulässigen Erzählinstanzen und erratischem Verhalten von Figuren arbeitet und dass die Perspektiven jeweils stark verengt sind. Dee hat eine Obsession entwickelt in dem zwanghaft gewordenen Bemühen, ihre Schwester zu finden. Sie fürchtet sich vor dem Schlaf, weil dann rote Vögel in ihren Kopf fliegen.
Aufmerksame Leser*innen fragen sich bald: wie viele Figuren haben eine dissoziative Identitätsstörung, wie viele Figuren gibt es als individuelle Kohlenstoffeinheiten tatsächlich? Nicht zu vergessen: was hat es mit der Katze auf sich? So beschädigt, wie mindestens eine Seele ist, so beschädigt ist auch das Haus.
Die Erzählinstanzen haben eigene Kapitel, überschrieben mit Ted, Dee, Lauren und, ja, auch Olivia. Sie sind alle unzuverlässig, weil sie nicht sind, was sie scheinen, auch sich selbst gegenüber. Ted wirkt auf uns beunruhigend, und im Verlauf unserer „Ermittlungen“ erfahren wir nach und nach, warum dies der Fall ist.
Welche Beziehung besteht zwischen Teds Innenwelt und Außenwelt?
„The Last House on Needless Street“ lässt sich bezeichnen als Detektivgeschichte ohne innere Ermittlungsfigur. Die ermittelnde Instanz sind die Leser*innen. Wir stellen recht bald Hypothesen über Laurens Verschwinden auf. Die verändern sich, weil sich mit Fortgang der Handlung unsere Wahrnehmung der Figuren verändert. Wir stellen fest, dass mit dieser Wahrnehmung die Frage einhergeht, welche Vorstellungen von Liebe und Anziehung, von blindem und echtem Vertrauen zwischen Figuren bestehen. Olivia und ihre Auslegung von Bibelstellen haben ebenfalls Einfluss.
Irgendwann fragen wir uns, ob und, falls ja, wie es möglich ist, die narrativen Sequenzen einer Reihe unzuverlässiger Erzählfiguren so miteinander zu verbinden, dass die verschiedenen Versionen einer Geschichte in dieser Verbindung Sinn ergeben. Durch die geschickte Erzählkonstruktion werden wir wiederholt auf falsche Spuren geschickt. Aber das ist bei Mysterygeschichten natürlich der Normalfall.
In Wards drei Seiten langer Bibliographie wird das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: DSM-5“ der American Psychiatric Association genannt, gefolgt von Literatur über Traumata und dissoziative Identitätsstörungen.
Zum Schluss gibt es eine Auflösung, die bereits in der sprechenden Katze und der Ähnlichkeit zweier Namen angelegt ist. Es handelt sich um eine Analogie zu „Es war alles nur ein Traum“. Nur dass es kein Traum war. Am unterhaltsamsten sind Olivias Bericht und die gut verarbeiteten Informationen zu dissoziativen Identitätsstörungen.
Holger Wacker
Horror
Viper Books
März 2021
Buch
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