Lektüre für eine einsame Insel auf der sich gerade der Himmel verfinstert
Still ruht die See. Bis der Bohrer einer Ölplattform vor Sunset Island eine Unterwasserhöhle zum Einsturz bringt und ein Wesen freisetzt, das schlechter Laune und hungrig ist. Sehr hungrig. Bald gibt es keine Bohrinsel mehr, Schiffe werden angeknabbert und alles, was kreucht, fleucht und schwimmt wird verspeist. Selbst die gefürchteten Jäger der Meere, unsere allseits beliebten weißen und andersfarbigen Haie, sind vor dem Wesen mit dem Riesenappetit nicht sicher und fliehen an den Strand.
Leider sind sie dort auch nicht geschützt, denn wie sich bald herausstellt ist der Wirkungskreis des großen Schnabulierers nicht aufs Wasser beschränkt. „Bang, bang, bang“ dauert es nicht lange und auch auf Sunset Island gilt: Supper’s Ready.
Wer in Anbetracht des Untertitels „Ihr hättet es nicht wecken dürfen!“ kosmischen Schrecken im Gefolge H. P. Lovecrafts erwartet, muss bei „Tidal Grave“ ein, zwei Gänge runterschalten. Denn aus seinem feuchten Grab steigt nicht Cthulhu oder einer seiner Adepten, sondern ein robustes wie rabiates Drachenwesen. Popkulturell geschult lässt Autor H. E. Goodhue seine Protagonisten selbst auf Godzilla verweisen, wobei das fresssüchtige, aber nicht feuerspeiende Monster den Beschreibungen nach eher Ähnlichkeit mit Gamera (ohne Schildkrötenpanzer) besitzt.
Was Popkultur angeht, ist Goodhue eh versiert, denn kaum etwas geschieht in seinem Roman zu Lande und im Wasser, was nicht an andere, größere oder gleichwertige Vorbilder gemahnt. Wie die kleine, bei allen Unterschieden, verschworene Dorfgemeinschaft, an deren Spitze der übliche, dicke Bürgermeister ohne Gespür für Gefahrensituationen steht. Immer bemüht, zugunsten eines lukrativen Sommergeschäftes die Warnungen des besorgten Mahners in den Wind zu schlagen. Der fällt etwas aus dem üblichen Rahmen, ist Raymond „Der Kapitän“ Waller doch kein tougher Held, sondern ein versoffener, wenn auch fähiger Fährenkapitän, mit einem – schon wieder üblichen – Groll auf arrogante Touristen, die Sunset Island in den Sommermonaten überschwemmen. Er wünscht ihnen Pest und Cholera an den Hals, aber nicht, dass sie realiter gefressen werden. Im Gegenteil, das macht ihn massiv sauer und lässt ihn sogar den Kampf mit höllischen Kreaturen aufnehmen. Koste es was es wolle. Na gut, ganz so originell ist die gebroche Figur nicht, war doch schon der literarische Chief Brodie alles andere als ein strahlender Recke, bevor er sich dem Weißen Hai stellte. Im Film wurde die Figur zugunsten Roy Scheiders etwas glattgebügelt (niemand hätte geglaubt, dass Scheiders Filmehefrau ihn mit Richard Dreyfuss betrügt).
Unabhängig vom Originalitätsfaktor überzeugt Captain Ray als kantige Figur mit bärbeißigem Witz. Wie die Figurenzeichnungen überhaupt – in ihren eng gesteckten Rahmen – gelungen sind. Goodhue verleiht seinen Stereotypen, knapp und ohne viele Worte zu verlieren, unterschiedliche Identitäten und literarisches Leben. Wobei die Hauptaufgabe der Figuren per se mehr darin besteht, dieses zu retten als philosophische Gespräche zu führen.
Denn ein Unglück kommt selten allein. Neben dem marodierenden Drachen kommt noch ein riesiger Tsunami auf die gebeutelte Insel zu. Und der bringt eine Menge verängstigter, dennoch oder gerade deswegen, hoch aggressiver Haie mit auf die Insel. Ein Schelm, wer dabei an „Deep Blue Sea“ (großer Hai in Kombüse) oder gar „Sharknado“ (viele Haie in den Straßen, Häusern und sogar der Kirche) denkt. Nein, dieses Denken ist sogar Pflicht, denn all die mehr oder minder versteckten Verweise und Zitate zu aufzuspüren, bereitet großes Vergnügen.
„Tidal Grave – Ihr hättet es nicht wecken dürfen!“ ist solider Creature-Horror zwischen Kaiju- und Hai-Attacken, schnell, schwarzhumorig, spannend und blutig, ohne das Wühlen im Gekröse und Zerren an den Nerven magen- oder herzbelastend werden zu lassen. Für etwas Distanz sorgen auch die manchmal an steifes Amtsdeutsch gemahnende Sprache sowie stilistische Unebenheiten. Ob diese eventuell zu Lasten, der im Großen und Ganzen rechtschaffenen Übersetzung gehen könnten, ist ohne Kenntnis des Originals schwer zu beurteilen. Ungenauigkeiten wie “Er hatte sich bemüht, als Linda noch zugegen gewesen war, etwas an den Talkshows und dem hanebüchenen Unfug von angeblich wahren Hausfrauen zu finden“ (eine fiktive Hausfrau kann auch in der scripted reality eine „wahre“ sein, wenn man es denn so unglücklich, eigentlich etwas anderes meinend, ausdrücken möchte. Eine real existierende Frau ist sie indes nicht), oder umständliche Satzkonstruktionen wie: „Die Werft von Sunset Island befand sich wie erwähnt im Zentrum der Insel“, stören den Lesefluss marginal, stoppen ihn aber nicht.
H. E. Goodhues Roman ist eine launige Sommer- und Herbstlektüre. Bevorzugt auf einer kleinen Insel zu lesen, während sich der Himmel gerade verfinstert.
Sollte der Roman je verfilmt werden, wäre es eher eine Asylum-Produktion als die eines großen Studios. Allerdings mit sattem Budget, sodass ordentliche Darsteller und Spezialeffekte drin säßen. Organisiert von Roger Corman.
Diese Rezension hat Gastrezensent Jochen König geschrieben – Vielen Dank!
Horror
Luzifer Verlag
2015
180
Funtastik-Faktor: 68