Die Schnittstelle von Medizin und körperlicher Transformation als Feld des Grauens
Transfrau Isa ist in den sozialen Medien sehr aktiv und hat viele Follower. Für eine teure Gesichtsoperation, durch die sie weiblicher aussehen will, hat sie über Fundraising 40.000 US-Dollar eingenommen. Dann ruft ihre Schwester an, erzählt ihr, dass ihr Vater an seiner Krebserkrankung sterben wird und ihm, wenn überhaupt, nur noch eine 30.000 Dollar teure Operation helfen kann. Isas Verhältnis zu ihrem Vater ist stark belastet, weil er sie ablehnt. Dennoch will sie ihm helfen und gibt ihm das Geld.
Als Isa auf Instagram eine Anzeige sieht, mit der Transfrauen für eine kostenlose experimentelle Operation gesucht werden, die genau zu ihrem Wunsch passt, nutzt sie die Chance. Vor allem auch, weil sie die Geldgeber*innen unter ihren Followern nicht enttäuschen will. Dr. Skurm verspricht Isa, dass er ihr Gesicht wunschgemäß verändern kann.
Rewind or Die – Horror der VHS-Ära
Isa findet Dr. Skurms Behandlung zwar äußerst ungewöhnlich, ist aber von der ersten Veränderung begeistert und fühlt sich mit ihrem weiblicheren Gesicht sehr wohl. Dann aber verändert sich ihr Körper auf furchtbare Weise. Isa will herausfinden, was mit ihr geschieht und wie sie die Veränderungen aufhalten kann, bevor sie unumkehrbar werden.
Der Kleinverlag Unnerving aus British Columbia in Kanada bringt ohne viel Marketingbemühungen das Unnerving Magazine und Bücher heraus, darunter die Reihe „Rewind or Die“, die sich am Horror (Splatter und Gore) der VHS-Ära (Kernzeit 1980er Jahre) orientiert. In dieser Reihe ist „Transmuted“ von Eve Harms als Band 30 erschienen. Die drei Hauptthemen des Buchs sind Queerness, Body Horror und die ethischen Grenzen der medizinischen Forschung. Die Themen werden geschickt miteinander verwoben und angereichert mit Bausteinen für Social-Media-Diskurse.
Prolog in der Hölle
Die Novelle beginnt mit einem Prolog, in dem eine Person über eine erbärmliche Kreatur namens Greg schreibt, einen ästhetischen Alptraum, geschaffen aus einer Haltung der Hybris heraus. In der ersten Person Singular wird berichtet, wie diesem misslungenen Experiment das Leben genommen und der Überzeugung Ausdruck verliehen wird, beim nächsten Mal werde alles anders:
„I will create an unworldly being of indisputable beauty. Next time, they will know my genius“
S. 2
Wir befinden uns offensichtlich in einem Horrorszenario, das tatsächlich zur VHS-Ära passt. Wer dieser Mensch ist, der solche Dinge sagt und noch schlimmere macht, zeigt sich später.
Aus dem Alltag einer Transfrau
Anschließend wird mit dem ersten Kapitel auf die Ich-Erzählerin Isa geschnitten, die von ihrer Streamingaktivität erzählt, während sie online ist. Wobei wir auch ein paar ihrer anonymen Follower kennenlernen, darunter welche mit so sexualisierten Nicks wie ladygamerbitch69 und KingHairyBallz.
Isa empfindet Unsicherheiten und Ängste, weil ihr äußeres Erscheinungsbild nicht mit ihrer inneren Selbstwahrnehmung übereinstimmt (Gender-Dysphorie). Sie hofft, durch Facial Feminization Surgery (FFS, Gesichtsfeminisierung, eine Kombination chirurgischer Eingriffe) die Dysphorie zu überwinden und endlich wunschgemäß aussehen zu können. Ziel dieser Operation ist es die männlichen Gesichtszüge so zu verändern, dass das Gesicht weicher und weiblicher aussieht. Im ersten Teil der Novelle erhalten die Leser*innen einen Einblick in den Alltag der Hauptfigur, die angenehm tief ausgestaltet ist.
Als kurze Novelle bietet „Transmuted“ nicht viel Raum für die Entwicklung weiterer Figuren. Isas Freundin Mitsuko, eine Künstlerin mit Vorliebe für fremdartige Clowns, ist die am besten charakterisierte Nebenfigur. Ihre Funktion besteht vor allem darin, einen anderen Blick auf Isa zu ermöglichen, gleichsam eine zweite Meinung in der Charakter-Diagnostik anzubieten. Am Rande gilt dies auch für Rayna, die aber eher im Anriss existiert. Isas Familienbeziehung ist anstrengend und plausibel, ebenso ihre übereilt wirkende Entscheidung, sich auf die Anzeige zu melden, die einen unsichtbaren Warnhinweis trägt. Die Einbeziehung von Social Media ist gut gelungen, der soziale Druck, der von ihnen ausgeht, wird überzeugend kommuniziert. Harms thematisiert auch die – vor allem emotionalen und psychischen – Kosten der Einlassung auf Social Media, ebenso die Kosten des Strebens nach körperlicher Perfektion. vtrans98 stellt die Frage, ob es nicht Transphobie sei, ein Gesicht wie eine CIS-Frau zu wollen. Ein Ausdruck seltsamer Diskursfreude, mit einer Frage zu provozieren oder demütigen zu wollen, die sich einem Menschen mit Gender-Dysphorie vermutlich nicht stellt.
Der verrückte Wissenschaftler
Es gibt eine ganze Typologie von Mad Scientists, zumeist besessenen Männern. Frauen müssen mit der Lupe gesucht werden. In „Transmuted“ treibt den verrückten Wissenschaftler Dr. Skurm, der ein Nachfolger der grotesken Forscher Dr. Moreau oder Dr. Butcher sein könnte, die Gier nach Anerkennung seines von ihm selbst angenommenen Genies, verbunden mit der Vollendung seiner Vorstellung von einem neuen Menschen. Harms beschreibt drastisch die Verbindung aus krimineller Energie, Rücksichtslosigkeit, Amoralität und Größenwahn. Das Leiden und die Rechte der Opfer interessieren ihn dabei nicht.
Dadurch, dass Harms den Mad Scientist in das queere Feld hineinwirken lässt, wird er ebenso wie das von ihm geschaffene neue Wesen zur Metapher im Genderdiskurs. Kontext ist die Entmachtung der Patienten und Patientinnen. Was der Mediziner Isa erzählt, hört sich alles großartig an. Er schafft auf freundliche Weise Vertrauen und gewinnt so die Kontrolle über Isa. Als die Folgen des medizinischen Eingriffs sich zunehmend vom Anfangserfolg unterscheiden und eine Entwicklung ins Monströse nehmen, stellt sich die Frage, ob Isa die Kontrolle zurückgewinnen kann. Und ob die Folgen des Eingriffs umkehrbar sind. Das Horror-Sujet erlaubt es, den Lesern und Leserinnen nicht nur eine abstrakte, sondern auch viszerale Vorstellung hiervon zu vermitteln. Isa durchläuft eine emotionale Achterbahn, die damit verbundenen emotionalen Wechselbäder übertragen sich auf die Leser*innen.
Literarischer und realer Body Horror
„Transmuted“ kann im Kontext der Reihe „Rewind or Die“ als Beitrag zum Body Horror gelesen werden. Transfrau Eve Harms präsentiert einen übersteigerten Blick auf eine Wirklichkeit, in der Transmenschen mit Ressentiments, Diskriminierung, Demütigungen und Hass zu kämpfen haben, wie auch mit der Gender-Dysphorie. Harms zeigt, wie eine Transfrau unter solchen Bedingungen zurechtzukommen, ihr Leben und Beziehungen zu anderen Menschen zu gestalten versucht. Der Body Horror ist vielschichtig gestaltet, berücksichtigt auch ausgestopfte Tiere, das gruselige Spiel mit menschlichen Augen, die Bilder der Freundin. Vor allem aber Dr. Skurms steht für die Horrorversion dessen, was Transmenschen vielleicht mitmachen müssen, wenn sie nicht nur Patient*innen, sondern in multipler Weise auch Opfer im medizinischen Feld werden, oder aber sich als Opfer fühlen.
Diversität einer Gesellschaft, allemal, wenn diese sich als Sozialgemeinschaft versteht, impliziert die über Toleranz hinausreichende Akzeptanz queerer Menschen. Ein Anfang könnte sein, ihnen zuzuhören, habe ich neulich irgendwo gelesen. Und wer in Ermangelung von Möglichkeiten keine Gelegenheit dazu findet, kann lesen, was sie zu erzählen haben. Nicht nur für Horrorfans ist „Transmuted“ ein gelungener möglicher Ausgangspunkt.
Danke, Holger Wacker, für die Besprechung der amerikanischen Ausgabe
"Rewind or Die" des Unnerving Verlags, Band 30
Horror
Unnerving Verlag
Juli 2021
Buch
113
84