Mehr Herbstatmosphäre geht nicht
Scarlett Hayden und ihr Partner Nathan wünschen sich ein Baby, möglichst bald. Sex haben sie zu jeder Gelegenheit, auch wenn Scarlett keine Lust hat. Doch es klappt einfach nicht, ihr Bauch bleibt babyleer. Ein Besuch in einer Buchhandlung erinnert sie an ein Märchen aus ihrer Kindheit, das Märchen von der Kürbiskönigin. Es erzählt von einem Wunschritual. In der Halloweennacht wird der Wunsch erfüllt, den man auf einem Zettel notiert und in einem Kürbiskopf verbrennt. Es ist erst Ende August, doch Scarlett möchte sofort schwanger werden. Ihr geliebter Nathan wünscht es sich so sehr und glaubt möglicherweise, sie sei nicht in der Lage, ein Kind zu empfangen.
Also geht sie in eine stillgelegte Gärtnerei. Dort findet sie einen Kürbis, höhlt ihn aus, schnitzt ihm ein Gesicht und verbrennt in ihm ihren sehnlichsten Wunsch. Doch der Kürbis geht komplett in Flammen auf, es bleibt nichts als ein Haufen Asche.
Am Abend fahren Scarlett und Nathan mit dem Auto zu seinen Freunden. Er ist nicht angeschnallt und wird von einer Gespinstmotte gebissen. Der Versuch diese zu töten, endet in einem schweren Verkehrsunfall. Nathan wird aus dem Wagen geschleudert und so schwer verletzt, dass er in ein künstliches Koma versetzt wird. Im Klinikzimmer zündet Scarlett eine Kerze an und – ein Kürbisgeist erscheint.
„Er wird nicht mehr zurückkehren“ [..] „Die Königin hat ihn. Wird ihn nicht mehr hergeben.“ [S. 39]
Scarlett fühlt sich schuldig und macht sich auf die Reise zur Kürbiskönigin. Es geht quer durch die Herbstlande: durch den goldenen September, den roten Oktober und den grauen November. Phantastische, skurrile, freundliche und böse Geschöpfe begleiten Scarlett auf ihrem Weg, der sich zugleich als ihr Ziel erweist.
Phantastische Geschöpfe jenseits des Üblichen? – Hier!
An dieser Geschichte haben vier AutorInnen geschrieben. Den Einstieg und die Reise durch den September beschreibt Fabienne Siegmund, dem Oktober widmet sich Stephanie Kempin und den Weg durch den November und zur Kürbiskönigin bereiten Vanessa Kaiser und Thomas Lohwasser. Der Leser könnte befürchten, dass die Geschichte nicht wie aus einem Guss wirkt, wenn so viele unterschiedliche Schreiberlinge sie verfassen. Doch weit gefehlt. Es sind es lediglich Kleinigkeiten, die sich stilistisch in den drei Abschnitten unterscheiden. Wenn man nicht wüsste, wie viele AutorInnen an dem Werk beteiligt waren, würde man es nicht bemerken.
Jedes Kapitel liest sich flüssig und verzaubert mit ausdrucksstarken Bildern und heiteren, kontroversen oder tiefsinnigen Dialogen. Die Herbstatmosphäre entfaltet sich zwischen den Buchseiten wie fallendes Laub, wie die Farben eines Oktoberwalds im Abendlicht, oder der aufsteigende Novembernebel am Morgen. Mehr Herbstatmosphäre geht wirklich nicht. Die Herbstlande präsentieren sich bunt, prall und im Lauf der Geschichte immer düsterer und bedrohlicher. Zu verdanken haben wir dieses breite Spektrum der Stimmungen den vielen skurrilen Gestalten. Zum Beispiel dem Laubdrachen, der aus Erinnerungen besteht, oder Lygnix, dem Drachen im Körper einer Katze. Dem Homunkulus, der um seine Freiheit kämpft oder den Nebeln, die Träume aufsaugen. Jedes Geschöpf ist einzigartig und vermittelt einen Teil der Botschaft, die Scarlett auf ihrem Weg erhält.
Wesentliche Fragen bleiben offen
Bezüglich der Figurenvielfalt wäre dennoch weniger mehr gewesen. Scraletts Reise zieht sich stellenweise etwas zu lang und nicht jede Station bringt die Geschichte voran. Dafür fehlt der Hintergrund zur Protagonistin. Wie hat sich das vielseitig interessierte Kind Scarlett zu einer Frau entwickelt, die sich selbst für einen Mann komplett aufgibt? Dazu noch für einen Mann, der sie als Person nicht respektiert und schlecht behandelt? Wie hat Nathan sie von seiner Liebe überzeugt, obwohl er mehr wie ihr Gebieter auftritt? Woher kommt dieses Verlangen nach einem Kind, das mehr einer Besessenheit als einer Sehnsucht gleicht? Darauf geht die Geschichte leider nicht ein und dadurch bleibt die Protagonistin trotz der vielen Interaktionen in den Herbstlanden blass. Sie erscheint nicht nur naiv und unsympathisch, sondern nicht greifbar. Erst recht nicht ihre Beziehung Nathan. Wir erleben Scarletts Entwicklung auf ihrer Reise, doch ihre Vergangenheit wird leider nur bruchstückhaft anhand ihrer Träume erzählt. Hier hätten die AutorInnen einige Seiten mehr in ihre Hauptfigur investieren dürfen und dafür vielleicht auf Hugo, den Troll oder die Mushpris verzichten können.
Fazit
Insgesamt ist „Herbstlande“ ein schön geschriebener, atmosphärisch dichter Roman mit einer Fülle von originellen Figuren und faszinierenden Begegnungen. Passend dazu sind die schönen Illustrationen von Jana Damaris Rech und die grandiose Umschlaggestaltung von Timo Kümmel das Tüpfelchen auf dem i. Runder und schlüssiger hätte die Geschichte gewirkt, wenn die Protagonistin Scarlett etwas sorgfältiger charakterisiert worden wäre.
Fantasy
Torsten Low Verlag
Oktober 2016
362
Funtastik-Faktor: 68
Danke für deine Meinung, es war sehr interessant! Ich kann deine Kritik auch durchaus nachvollziehen, aber mir hat Scarletts fehlender Hintergrund interessanterweise nichts ausgemacht. Ich habe das unter „Liebe macht blind“ abgehakt, ein Zustand der mir leider sehr bekannt ist. Am Schluss wurde ja noch einiges angesprochen, und auch da konnte ich immer nur wissend mit dem Kopf nicken.
Liebe Grüße
Tanja
DANKE Dir für Deinen Kommentar. So wie Du sehen es ja die meisten, vielen ist Scarletts Entwicklung nicht so wichtig. Es steht ja ihre Reise im Mittelpunkt und die ist schön beschrieben und auch nachvollziehbar. Ich konnte mich über Scarlett nur wundern und habe sie innerlich gefragt „Warum diese Selbstaufgabe? Warum mit dem Kerl ein Kind?“ Da hat mir einfach der Hintergrund gefehlt.