Bericht aus dem Irrenhaus
Im Jahr 1980 begann Gerhard Roth mit „Der stille Ozean“ seinen sieben Bücher umfassenden Zyklus „Die Archive des Schweigens“, den er 1991 mit dem Essayband „Eine Reise in das Innere von Wien“ beendete. Er befasst sich in diesem Zyklus mit der jüngeren Geschichte Österreichs. Den Mittelpunkt und dritten Band bildet „Landläufiger Tod“, dessen erste Ausgabe 1984 nach Entfernung einzelner Teile aus dem Manuskript mit einem Umfang von 783 Seiten erschien.
Nun ist der Roman 33 Jahre später in der ursprünglich beabsichtigten Fassung erschienen, als um rund 100 Seiten erweiterte Neufassung und überarbeitete Ausgabe, beworben als „Ein Traum- und Märchenbuch für Erwachsene“. Er besteht aus sieben Büchern sehr unterschiedlichen Umfangs (20 bis an 400 Seiten).
Er ist hochkomplex in Form und Inhalt, vielfältig in Themen und Motiven, suspendiert die herkömmliche Form romanhaften Erzählens. Das binäre Denken, welches auch eindimensionale Kausalitäten bestimmt, erscheint hier als absurd.
Die Hauptfigur Franz Lindner und die ihr zugeschriebene Geisteskrankheit verwendet Roth, um unsere Wirklichkeitskonstruktion in Frage zu stellen. Geisteskrankheit als partiell bis vollständig soziale Konstruktion, die in der Abweichung vom Normalen, einer Verschiebung der Wahrnehmung und des Denkens, sichtbar wird.
Auflösung traditionellen Erzählens
Roths Roman ist eine Konstruktion, die nicht Anfang, Mitte und Ende aufweist, auch keine motivierende Exposition und eine zielführende Erzählung. Der Landarzt des Dorfes ist suizidgefährdet, seit er sein Leben unerträglich findet, der Überzeugung ist, die Tatsache, nur als Arzt für andere Menschen da sein zu müssen, bedeute einen dauerhaften Zustand des Wartens. Früher im Roman wird er als sterbend beschrieben, weit später als hingerichtet.
Die kleinen und großen Bücher stehen gleichwertig nebeneinander, mögen als mikro- und makro-skopische Bausteine eines auf Kumulation ausgerichteten Werkes gesehen werden, das vielleicht als Roman nicht abgeschlossen, sondern grundsätzlich modifizierbar und erweiterbar ist.
In dieser Beziehung steht denn auch die Neufassung zur Ursprungspublikation. Das erste Buch, „Dunkle Erinnerung“, beginnt mit „Circus Saluti“, der kurzen Fassung einer Erzählung von 1981 gleichen Titels (Collection S. Fischer Band 21). Im Zirkus erleben wir Macht und deren Benutzung, Phantasie und Magie, die scheinbare Überwindung der Grenzen der Schwerkraft und des menschlichen Körpers.
In „Circus Saluti“ lernen wir eine Gemeinschaft kennen, in deren Dorf ein Wanderzirkus seine Zelte aufgeschlagen hat. Zwei Welten treffen aufeinander, eine davon ist durch Dumpfsinn bestimmt, dadurch, jeden Fremden als potenzielle Bedrohung anzusehen.
Beim landläufigen Tod handelt es sich wohl um das sukzessive Verschwinden aus dem Leben, vor allem dem eigenen, erzeugt durch Suizid oder eine andere Weise der Transformation, die von der lebenden Ursprungsform wegführt. Das geschieht zuerst gedanklich, gleichsam als eine Art Übung in der Veränderung des eigenen Lebens. Das Buch beginnt wie ein normaler Roman. Franz Lindner, dessen Vater Imker ist, verliert nach einem Unfall die Sprache, leidet unter schizophrenen Schüben, wird in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.
Besuch bei Leonora Carrington
Im Anschluss an „Dunkle Erinnerung“ lesen wir im zweiten Buch, „Berichte aus dem Labyrinth“, sieben nicht abgeschickte Briefe aus dem Irrenhaus und wohnen dabei zugleich der Verabschiedung vom linearen und monokausalen Erzählmodus bei. Es schließen sich zwei Kapitel an – „Die Schöpfung“ und „Das gefrorene Paradies“ -, in denen absurde bzw. surreale Sätze ohne Schlusspunkte gelistet sind. Dann folgt mit „Das Alter der Zeit“ ein Kapitel mit 697 durchnummerierten surrealen Aussagen. Wir lesen Aufzeichnungen Franz Lindners, die auf surreale Weise Sphären verkoppeln und so den Denkraum erweitern.
Das zweite Buch schließt mit der „Dorfchronik“, die ursprünglich als 108 Seiten lange, aus Platzgründen aus dem Manuskript herausgenommene, „Dorfchronik zum „Landläufigen Tod““ in der Collection Fischer (Band 40) veröffentlicht wurde. Roth verbindet Dorfbewohner mit Motiven, die diese Verbindungen surreal erscheinen lassen, darunter eine pferdegroße Ratte und ein Engel, aus dessen Kopf ein Engel gewachsen ist, aus dessen Kopf ein Engel gewachsen ist – usw. In dieser Chronik gibt es Dialoge zwischen zwei Elstern, die in anderen Romanteilen in Gespräche mit weiteren Vögeln eintreten. Vögel sind nicht die einzigen sprechenden Tiere im Roman.
„Die Hühner in der Sakristei antworten dem Pfarrer auf Hebräisch, sobald die Äpfel reif sind.“
Die Dorfchronik bietet voneinander abgegrenzte Erzählungsblöcke, die den Alltag im Dorf spiegeln. Dieses Erzählen ist linear organisiert nach Tageszeiten, wobei ab dem Morgen die ersten vier Zeiten aus jeweils 50 nummerierten Absätzen bestehen, während die Nacht als letzte auf die Nummern verzichtet. Weiter weist das Erzählen durch das Bild der muhenden Madonna, die ruft: „wer melkt meine Milch“, eine zyklische Komponente auf.
Struktur und Chaos
Dem entgegen steht im dritten Buch, „Mikrokosmos“, das Kapitel „Schwierige Entscheidung“, in dem die Hauptfigur die Lektüre eines Bienenmagazins beginnen möchte. Aus der Möglichkeit des Aufschlagens der Zeitschrift wird eine Kausalkette entwickelt, die der bekannten Logik des Flügelschlages eines Schmetterlings folgt. Über den Realismus hinausweisend werden Verknüpfungen hergestellt zwischen beispielsweise einer träumenden Katze, deren Traum einen Fötus in der werdenden Mutter in Zuckungen versetzt, weshalb es zu regnen beginnt, wodurch eine Greisin ihre Brille fallen lässt, durch deren Zerbrechen auf dem Boden sich ein Blatt vom Kastanienbaum löst, durch dessen Herabschweben ein Dorfbewohner stirbt, bei dessen letztem Atemzug seine Pendeluhr stehen bleibt, wodurch ein Seiltänzer das Gleichgewicht verliert.
Alles steht zueinander auf seltsame und unsichtbare Weise in Beziehung, die kausale Welt nimmt eine Gestalt an, in der die Prognostizierbarkeit von Ereignissen auf Basis gegebener Daten mangels Verbindung nicht möglich ist, es sei denn als Konstruktion ex post. Auch die Welt, die wir kausal erklären, ist immer nur ein durch eben diesen kausal verengten Blick erzeugte, aus Momentaufnahmen zusammengesetzte, deren fehlende Momente wir extrapolieren und damit passend machen. Wir merken gar nicht, wenn in obiger Verkettung der Kastanienbaum fehlt, weil wir dann die nunmehr naheliegende Verknüpfung konstruieren und somit eine neue Realität erzeugen. Wahnsinn kann (auch) gesehen werden als ein Aufbegehren gegen eine die Welt verkürzende Logik.
Rituale, Waben und Wirklichkeit
„Mikrokosmos“ ist das umfangreichste Buch, mit den kürzesten Geschichten. Die Wirklichkeit ist in einer anderen Wirklichkeit verborgen, in der eine andere Wirklichkeit verborgen ist. Manchmal wird sie sichtbar, wie der Kopf des Engels aus dem Kopf des Engels. Ein strukturierendes Merkmal äußert sich in den zehn Segmenten „Die Schilderung des Freundes“, deren Autor der Jurastudent Alois Jenner ist oder zu sein scheint, eine Art Freund und Gegenpol Franz Lindners, diesen durch verschiedene Szenerien begleitend.
Bienen finden sich allerorten im Buch, sie sind Thema zweier Anhänge, Roth hat 1989 einen schmalen Essayband mit dem Titel „Über Bienen“ veröffentlicht. Wie ein Bienenstock ist sein Roman ein Organismus, der sich aus vielerlei zusammenfügt.
Bienen haben für Roth in Momenten ihres Verhaltens etwas Mechanisches an sich, in anderen folgen sie einer unsichtbaren inneren Logik. Wie beim Chaos erscheint alles als unorganisiert, folgt jedoch in seinem Inneren strukturierenden Prinzipien.
„Dann gestatten Sie mir die Frage, aus welchen Gründen Sie ein Komplize dieser schlechten Welt sind?“
Im vierten Buch, „Aufbruch ins Unbekannte“, finden sich drei Texte, darunter der 1982 vorab bei Droschl veröffentlichte „Das Töten des Bussards“, in dem ein Mörder sich wort- und bildreich über mörderische Handlungen auslässt, die geprägt sind durch Lust und Gewalt und den Drang zur Sinn- und Ordnungsgebung durch Rituale.
Die Sprache der Dinge und der Natur
In den vier ersten Büchern wird zwischen zwei Systemzuständen von Franz Lindner gewechselt, die sich seinem Krankheitsbild folgend beschreiben lassen als Zustand mit und ohne depressiven Schub. Mal gibt es zwischen beiden einen abrupten Wechsel, mal gibt es einen fließenden Übergang. Der Wahnsinn, der in der Normalität verborgen ist, die im Wahnsinn verborgen ist – das ist eher nicht sauber zu trennen.
Beides äußert sich in der Qualität des Geschriebenen. Dieses Vorgehen gibt Roth im fünften Buch auf. Hier werden unter dem Titel „Märchen“ ebensolche Geschichten erzählt, durchnummeriert auf 66, erzählt von Bewohnern der Irrenanstalt des Dorfes, aufgezeichnet von den „Gebrüdern Franz und Franz Lindner“.
Die wahrnehmbare Welt wird einmal mehr mit dem Übernatürlichen gekoppelt. Auch hier geht es um Sprache (ein Buchfink hilft einem Sprachschöpfer, Zugang zur Sprache der Natur zu finden), den schönen und tödlichen Gesang einer Nachtigall, das Streben eines gefallenen Apfels, der durch seinen Quasi-Suizid zu unvorstellbarer Größe gelangt, den Wahnsinn und die Bienen, um nur ein paar zu nennen.
Nach rund 150 Seiten Märchen folgen im sechsten Buch Einträge in ein „Tagebuch“, im siebten „Dokumente“, darunter Zeichnungen und der Text „Eine Entenjagd“. Der den Roman beendende Anhang enthält zwei literarische Essays über Bienen.
Roths Figuren lassen sich als Menschen verstehen, die sich wie Sisyphos scheinbar sinnlos an der Welt abarbeiten und vielleicht gerade darüber ihre Sinngebung erfahren, dass sie über dieses Misslingen von der Normalität abweichen, das Abarbeiten als Widerstand, der gelingt, weil er als Prozess gelebt wird. Auch, wenn die Welt sie als Wahnsinnige definiert.
Fazit: Der Bienenstock als Versteck
Gerhard Roths Roman „Landläufiger Tod“ ist eine Erzählungssammlung, die ein Bienenstock ist, mit dem man sich auf je eigene Weise vertraut machen kann, in dem man sich zu verstecken suchen kann wie Lindner. Die Waben dieses Bienenstocks beherbergen groteske Bilder und Figurencharakterisierungen, alltägliche und wahnhafte Konstrukte, Verschmelzungen von Imagination und realer Alltagswahrnehmung, lange Texte und Miniaturen, die von der menschlichen Unvernunft und Dummheit erzählen, von der Perversion im Bemühen, Ordnung und Struktur in das Leben und seine Elemente zu bringen, bis hin zu Ritualen, die Aggressionen und den Willen zur Vernichtung als Zivilsationsleistung feiern.
Eine Gastrezension von Almut Oetjen – Danke!
Die Archive des Schweigens, Band 3
Phantastik Plus
S. Fischer Verlag
Mai 2017
972
Funtastik-Faktor: 84