Phantastisch im Sinne von außergewöhnlich
Layla ist Palästinenserin und lebt in einem kleinen Ort im Norden Israels nahe der Grenze zu Palästina. Tagsüber arbeitet sie als Journalistin bei einem Radiosender, nachts quälen sie Albträume vom Holocaust. Als sie den Auftrag erhält, eine Reportage über den angeblichen „Engel von Palästina“ zu erstellen, lernt sie Omar und Lior kennen.
Omar lebt auf der Straße und vergöttert seinen Bruder Majed, der im Gefängnis sitzt. Im selben Gefängnis, in das sie auch den Engel stecken, noch bevor Layla sich davon überzeugen kann, dass es ihn überhaupt gibt. Lior ist Jude und Biologe, der lustlos an seiner Dissertation arbeitet. Er verliebt sich Hals über Kopf in Layla und nimmt ihr Notizbuch mit. Aus Versehen zwar, doch das hindert ihn nicht daran, eingehend ihre Recherchen zu studieren. Wie Layla glaubt Lior nicht an Engel und ist wenig begeistert davon, dass sein Vater den Alkohol gegen das ultraorthodoxe Judentum getauscht hat. Anstatt die Gebote zu achten, geht er lieber mit seinem Kumpel Dror ein Bier trinken. Doch der Polizist kann ihn nicht dazu überreden, sich nach anderen Frauen umzusehen. Für Lior gibt es nur Layla, obwohl es völlig undenkbar ist, dass die beiden sich näherkommen.
Layla wünscht sich Freiheit für ihr Volk. Und leidet darunter ihren Vater leiden zu sehen, den die israelische Miliz ohne jeglichen Grund ins Koma prügelte. Lior hingegen versteht nicht, warum die Araber protestieren. Aus seiner Sicht ist Israel die einzige funktionierende Demokratie im Nahen Osten. Während in Jerusalem eine dritte Intifada droht, finden Layla, Lior, Omar, Dror, eine alte Frau aus dem Kibbuz und sogar der Engel mit kleinen Schritten auf einem verschlungenen und steinigen Weg zueinander.
Alltagsgeschichten, die es so nur in Israel gibt
„Am Boden des Himmels“ von Joana Osman erhielt 2020 den Phantastikpreis der Stadt Wetzlar. Buchpreiswürdig ist dieser Roman ganz ohne Frage, doch ob ein Phantastikbuchpreis der passende ist? Als ‚phantastisch‘ empfinde ich das Buch eher im Sinne von überwältigend, denn übernatürlich. Andererseits gehört die Geschichte sicherlich zu den modernen Märchen, die gegenüber den Genre-Klassikern ihr Themenspektrum um Autonomie, Individualität, Toleranz und Vielfalt erweiterten.
Wir werden Zeuge eines Alltags, den es so nur in Israel gibt. Ein Alltag, der wie bei uns aus Job, Freizeit, Familienleben und der Suche nach Glück besteht. In einem Land, in dem sich jüdische Bürger und Bürger arabischer Abstammung als Feinde gegenüberstehen.
In „Am Boden des Himmels“ begegnen wir Menschen, die auf beiden Seiten der Konfliktfront ihr Leben unter Umständen meistern müssen, die wir uns in Europa gar nicht vorstellen können. Mit einer ständigen Angst im Nacken vor Übergriffen der Staatsgewalt, vor Bombenanschlägen, vor einer Stimmung, die von nebeneinander existieren, zu gegenseitig attackieren kippt.
»Layla ist davon überzeugt, dass die friedlichsten Menschen, die mit den reinsten Herzen, meistens auch diejenigen sind, denen am übelsten mitgespielt wird. Sie laufen sehenden Auges in ihr Verderben, weil sie nicht wahrhaben wollen, wie schlecht die Welt um sie herum ist. Wer es wagt, aus dem Kreislauf aus Schuldzuweisung und Vergeltung auszusteigen, so glaubt sie, den reißen die Menschen irgendwann in Stücke, weil sie es nicht aushalten können, dass ihnen jemand den Spiegel vorhält.« [S. 118]
Nicht mehr und nicht weniger als das Prinzip Hoffnung
Jerusalem, ein wesentlicher Schauplatz der Geschichte, ist das Zentrum der Weltreligionen Judentum, Islam und Christentum. Es ist kein – Wunder -, dass in diesem Schmelztiegel der Religionen Heilige, Propheten oder gar Engel auftauchen, selbsternannt oder fremdbestimmt.
Über den Jungen, der als ‚Engel von Palästina‘ bezeichnet wird, erzählt Joana Osman nicht so viel, wie der Klappentext suggeriert. Welche wundersame Wirkung er auf ihn umgebende Menschen hat, wird lediglich an zwei oder drei Stellen erläutert. Vielmehr dient er als Projektionsfläche für die bekannten Ressentiments, die Juden und Araber gegeneinander aufbringen. Und die im Buch, ähnlich wie in der Realität, zu bürgerkriegsähnlichen Szenen führen. Zur dritten Intifada. Für die Protagonisten jedoch, die wir durch ihre Geschichten begleiten, dient er als verbindendes Element im doppelten Wortsinn: als Ausgangspunkt einer Begegnung und als Motiv für ein menschlicheres Miteinander.
Fazit
Den Nahost-Konflikt löst der Roman von Joana Osman nicht. Die Geschichte verzichtet wohltuend auf Heilsbotschaften und große Gesten. Stattdessen konzentriert sie sich darauf, auf glaubwürdige Weise Menschen einander näherzubringen, die im wahren Alltag Israels eine Mauer aus festgefahrenen Feindbildern zwischen sich errichten würden. Darin besteht die Magie dieses Romans: in der Hoffnung, dass Vergebung und ein Neuanfang möglich sind, wenn Feinde einander als Menschen sehen. All dies vermittelt die Autorin in ausdrucksstarken Bildern, die uns unmittelbar mitnehmen in die Hitze, den Regen, die Träume und den Hass. Zugleich schreibt sie eine sanfte Sprache, die unter die Haut geht. Allenfalls die häufigen Perspektivwechsel erschweren das intuitive Verständnis zu Beginn des Romans, doch das legt sich. Spätestens nach der Hälfte des Buchs sind uns alle Figuren so vertraut, dass wir leicht in ihre Sicht der Dinge hineinfinden.
„Am Boden des Himmels“ erzählt eine Geschichte, die viel mehr bewirkt, als nur gut zu unterhalten. Sie regt dazu an, die Situation aus der Perspektive der betroffenen Menschen zu betrachten und die eigene Sichtweise zu hinterfragen.
Eva Bergschneider
Phantastik Plus
Atlantik
April 2019
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