Ashthorne – April Yates

Das Grauen an und unter der Oberfläche

Ashthorne - April Yates © Ghost Orchid Press, dunkelgrauer Hintergrund, sepia, alte Fotos mit Hospitalgebäude und zwei Frauen, Schrift weiss
Ashthorne © Ghost Orchid Press

Ashthorne House war bis zum Ersten Weltkrieg ein prosperierendes Anwesen. Aber der Krieg führte zum Abzug der jungen Arbeitskräfte und zum Rückgang der geschäftlichen Aktivitäten. Besitzer Bramwell Ashthorne lebt mit seiner Tochter Evelyn noch in Ashthorne House. Stundenweise kommt eine Frau aus dem nahegelegenen Dorf mit ihrer Tochter zur Erledigung von Hausarbeiten. Der Krieg ist vorbei, das Haus ein Hospital für schwerverletzte Veteranen, um die sich Dr. Roskopf und Schwester McGowen kümmern.

Mit Einsetzen der Handlung kommt Adelaide Frost als Hilfspflegerin dazu. Sie hofft, so etwas Gutes zu tun und auch ihrer Familie zu entkommen, von der sie abgelehnt wird, weil sie lesbisch ist. Adelaide entwickelt ein freundschaftliches Verhältnis zum Veteranen Charlie und verliebt sich in Evelyn, die ihre Gefühle erwidert. Evelyn ist überzeugt, dass im Hospital fragwürdige Dinge geschehen. Die beiden Frauen gehen dem mit Unterstützung Charlies nach. In ihren Untersuchungen müssen sie auch die Fragen klären, was mit Evelyns Mutter geschehen ist und in welchem Verhältnis der Vater zu Roskopf steht. Sie machen seltsame Beobachtungen, sowohl in den Kellergewölben wie auch in der Dorfkirche. Als Charlie verschwindet, nehmen die Dinge eine böse Entwicklung.

Historischer Kontext

Mehr als 3000 britische Herrenhäuser wurden im Ersten Weltkrieg als (Hilfs-)Hospitäler genutzt. Hilfsschwestern waren meist Töchter aus der Oberschicht, die noch nie, zumindest beruflich, gearbeitet und Männer mit grauenhaften Verletzungen gesehen hatten. In den Häusern wurden Operationen durchgeführt und Nachbetreuungen vorgenommen, die sie zu Genesungsheimen für Kriegsversehrte werden ließen.

Ein solches Heim ist Ashthorne House. Der einzige als Charakter entwickelte Soldat ist Charlie. Sein Schicksal ist grauenhaft, er ist einer der vielen Gesichtsversehrten dieses Krieges, aber er bemüht sich damit zurechtzukommen. Hilfreich ist die Beziehung zu Adelaide.

Faktisch war die Betreuung der Veteranen besser als in den tradierten starren Strukturen der britischen Gesundheitspolitik. Der relativ offene und wohl auch freund(schaft)liche Umgang der Frauen mit den Veteranen trug zur schnelleren Gesundung bei. Wenn das Gesicht das wichtigste Merkmal ist, das im Verhältnis zur Welt die Identität bestimmt, ist es schwer vorstellbar, dass Menschen mit solchen Verletzungen zumindest relativ bald wieder zwischenmenschliche Beziehungen zulassen oder Lebensfreude entwickeln können. Aber April Yates hat für diesen Teil der Geschichte gut recherchiert.

Eine Schauergeschichte mit sapphischer Romanze

Yates ist eine Autorin sapphischer Horrorgeschichten. Nach einer Reihe von Short Stories ist „Ashthorne“ ihr erster längerer fiktionaler Text. Das Adjektiv sapphisch geht zurück auf Sappho, griechische Dichterin der Antike, und ist ein Synonym für lesbisch.

Yates gelangt zügig zur Romanze zwischen Adelaide und Evelyn, beschreibt die Beziehung als zärtlich und die wenigen erotischen Szenen verhalten. Integraler Bestandteil des queeren Narrativs ist die Destabilisierung der herrschenden Normen der Heterosexualität, die Vorstellung der Eindeutigkeit geschlechtlicher Identität, wie sie die Perspektive der Familien beider Frauen bestimmen. Bis auf eine Person, über die hier jedoch nichts geschrieben wird, weil damit ein guter Teil der Geschichte gespoilert würde.

Ein weiterer Bestandteil ist die im Umgang der beiden Frauen mitschwingende Frage, ob sie ein Paar sind, besonders aus Sicht Adelaides. Als die Schauerebene langsam in die Geschichte eingezogen wird, bildet sich ebenfalls langsam ein gemeinsamer Bezugsrahmen beider Frauen heraus. Sie finden eine Identität als Paar, was hilfreich ist in der finalen Konfrontation.

„Ashthorne“s Prosa liegt stilistisch in der Nähe von klassischen englischen Schauergeschichten oder auch Daphne du Mauriers „Rebecca“. Gleichzeitig aber so weit davon entfernt beziehungsweise nahe bei heutiger Prosa, dass wir uns während der Lektüre an alte Geistergeschichten erinnern, jedoch nicht den Eindruck bekommen, „Ashthorne“ sei auf klassisch getrimmt. Das fällt insbesondere bei den Dialogen auf. Hingegen ist der Erzähltext sprachlich klar und einfach gehalten, selten gibt es verschachtelte Satzkonstruktionen. Insgesamt fließt der Text melodisch vor sich hin, so dass es Spaß macht, ihn laut zu lesen.

Having hastily gathered some candles from the drawing room, Evelyn and Adelaide readied themselves for the descent into the unknown.“

S. 81

Yates arbeitet mit standardisierten Horror-Tropen, wie einer düsteren Stimmung, dem Haunted House (das nicht zwingend ein Geisterhaus ist) und einem Halbwesen beziehungsweise einer übernatürlichen Macht im Keller. Außerdem mit einer Sekte, die eine archaische Macht anbetet, Bannzeichen gegen das Böse, heidnischen Riten und der Entweihung einer christlichen Kirche, sowie einem mysteriösen Arzt und seiner rechten Hand. Es gibt seltsame Lichter und Erscheinungen, wie auch plötzliche Temperaturstürze.

Hilfreich bei alledem ist, dass das Anwesen nahezu verlassen ist. Die Romanze trägt dazu bei, dass die emotionale Intensität verstärkt wird, auch das Erleben von Liebe und Verlust bei beiden Protagonistinnen.

Eine Zeitenwende

Die Gegenwart der Erzählung ist eine Zeitschwelle zwischen einer Vergangenheit, die durch millionenfaches Sterben und Elend charakterisiert ist, sowie einer ungewissen Zeit, die vor den Menschen liegt, aber ähnliches Leid bringen könnte. Die sozialen und politischen Bedingungen, bestimmt durch männlich konnotierte Parameter wie Macht, Gewalt und die Todsünden, legen dies den Menschen nahe: die zyklische Wiederholung von Männern herbeigeführten Grauens. Großbritannien musste seinen Blutzoll an zumeist jungen Männern zahlen. Einzig das Dorf nahe Ashthorne blieb verschont.

Dies ist in etwa ein möglicher Argumentationsgang, mit dem in der Erzählung Frauen beanspruchen, künftig Macht auszuüben. Die Zeitenwende soll herbeigeführt werden, indem eine archaische weibliche Macht, die in den Eingeweiden von Ashthorne gebunden ist, befreit wird und in einer jungen Frau zu alter Kraft heranwächst. Dass diese junge Frau Adelaide oder Evelyn sein soll, ist naheliegend.

Durch die Herrschaft dieses Wesens würde die Kontinuität mit der Vergangenheit beseitigt und deren durch männliche Machtstrukturen bedingte Zyklizität durchbrochen. Der kosmische Zeitbegriff dieses Wesens würde die Zukunft der Menschen bestimmen. Eines Wesens, das bis auf die nicht überprüfbare Bezeichnung als Hexe recht unbestimmt ist. Aber wir wissen aus dem Horrorgenre, dass solche Wesen im Normalfall einer (verdeckten) Agenda folgen oder sich nicht für die Ziele von Menschen benutzen lassen wollen. Alles Weitere hierzu klärt der Schluss der Geschichte.

Wenn die Erlösung von einer anderen Macht kommen soll, erleben die Menschen zumindest immer einen Widerspruch in sich. Dass die Erlösung nicht von oben kommt, haben sie wohl gelernt. Dann probieren sie es halt einmal mit der Erlösung aus der Unterwelt.

DANKE an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischen Originals

Ashthorne
April Yates
Horror
Ghost Orchid Press
August 2022
Buch
204
78

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