Autonom – Annalee Newitz

Ein Potpourri an elementaren Zukunftsthemen

Autonom - Annalle Newitz © Fischer-Tor
Autonom © Fischer-Tor

Die Biotechnologin Judith Chen, genannt Jack, synthetisiert Nachbauten von Medikamenten, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Sie versteht sich als Patent-Piratin und geht auf diese Art gegen die Macht der Pharmakonzerne und den Missbrauch von Arzneimittel-Patenten vor. Sie möchte, dass sich jede Person die Arzneimittel leisten kann, die er oder sie braucht. Jacks aktueller Renner ist Zacuity, ein Medikament, das Arbeitsunlust vertreibt. Doch es hat fatale Nebenwirkungen. Jacks Kunden verfallen in eine unstillbare Arbeitswut, sie arbeiten, bis sie tot umfallen. Jack ist überzeugt, dass bereits das Originalpräparat diese süchtig machende und gefährliche Wirkung hat. Sie setzt alles daran, die bittere Wahrheit offen zu legen und den Pharmakonzern Zaxy zur Verantwortung zu ziehen. Gemeinsam mit dem befreiten Kontraktarbeiter 30 aktiviert Jack einige Kontakte aus ihrer Vergangenheit als Forscherin und Revolutionärin.

Die IPC-Agenten (International Property Coalition) Eliasz und Paladin haben den Auftrag, Jack aufzuspüren und unschädlich zu machen. Sie gehen buchstäblich über Leichen, um der angeblichen Terroristin auf die Spur zu kommen. Den Söldner und den Militärroboter verbindet bald mehr, als nur beruflicher Ehrgeiz. Kann sich Liebe zwischen einem Menschen und einer KI entwickeln?

Persönlichkeitsrechte von Mensch und KI

„Autonom“ spielt im Jahr 2144, also 125 Jahre in der Zukunft. Die Welt wird von Konzernen beherrscht und ist in Wirtschaftszonen unterteilt. Roboter und KIs sind hochentwickelt und allgegenwärtig. Die Biotechnologie ermöglicht den Menschen, ihre Körper zu modifizieren und mit Hilfe von Medikamenten jegliche Krankheiten und das Alter fernzuhalten. Doch nicht allen Bürgern stehen die Privilegien dieser Zukunft zur Verfügung. Roboter und Menschen aus niedrigen Gesellschaftsschichten werden als Kontraktarbeiter wie Sklaven gehalten. Doch die Bots streben nach Autonomie und begehren auf.

In diesem Spannungsfeld hat die Autorin eine irrwitzige Geschichte angesiedelt, die gleich mehrere elementare Gegenwarts- und Zukunftsthemen streift. Bereits Star Trek beschäftigte sich mit dem Persönlichkeitsstatus des Androiden Data, Annalee Newitz geht jedoch einige Schritte weiter. Ihre Bots bestehen alle den Turing Test, gehen also in einem Blind-Test als Menschen durch. Sie lernen selbständig, erbringen originäre Leistungen, kommunizieren proaktiv und sind sich ihrer selbst bewusst. Sie entwickeln Emotionen, gehen Freundschaften und Liebesbeziehungen ein. Annalee Newitz beschreibt die Charakterentwicklung Paladins und die Liebesbeziehung zu Eliasz glaubhaft und feinfühlig. Selten trifft man in der Science-Fiction auf derart ambivalente und faszinierende Persönlichkeiten. Die Autorin thematisiert am Beispiel des Roboters die Frage nach dem Recht auf Selbstbestimmung des Geschlechts. Paladin wird als Mann behandelt, solange bis Eliasz sie vor die Wahl stellt. 

Kritik an Arzneimittelpatenten

Obwohl die Schauplätze denen in einem Cyberpunk-Roman ähneln, ist die Atmosphäre weniger düster. Die Szene der Technik-Nerds und Wissenschaftler ist von einem flammenden Idealismus geprägt. Das Ziel, etwas zu bewegen, Grenzen zu sprengen treibt Menschen und Bots an. Jack eignet sich anfangs nur bedingt als Sympathieträger. Durch Rückblenden in ihre bewegte Vergangenheit lernt die LeserIn sie jedoch besser kennen und kann ihr Handeln nachvollziehen. Annalee Newitz schildert ihren Weg von der talentierten Naturwissenschaftlerin zur Rebellin und Piratin. Beißende Kritik am bereits bestehenden Patentsystem, das den Herstellern von Arzneimitteln für 20 Jahre ermöglicht, beliebige Preise für lebensnotwendige Medikamente zum Beispiel gegen Krebs, HIV, Hepatitis C festzusetzen, kommt hier deutlich zum Ausdruck. Annalee Newitz extrapoliert dieses Problem in eine Zukunft, in der die Menschen von verschiedensten Medikamenten und Drogen abhängig gemacht werden, um gesellschaftlichen Standards zu genügen. Ein Trend, der sich anhand der Statistiken zum Arzneimittelumsatz bereits heute abzeichnet.

Annalee Newitz geht in ihrem Roman auf so vielerlei unterschiedliche Aspekte einer möglichen zukünftigen Gesellschaft ein, dass die eigentliche Geschichte um Jack bisweilen ins Hintertreffen gerät. Der Storyaufbau verzettelt sich stellenweise zu sehr in die Vergangenheit oder die gegenwärtige Persönlichkeitsentwicklung der Protagonisten. Obwohl diese Kapitel interessante Hintergründe vermitteln und die Figuren zum Leben erwecken, möchte man manchmal einfach nur wissen, wie die eigentliche Story weitergeht. Der Spannungsbogen verläuft bisweilen in quadratischen Pulsen mit zu langen Sequenzen auf niedrigem Energielevel. In den letzten Kapiteln wird es noch einmal richtig dramatisch, allerdings bleibt eine letzte finale Wendung aus.

Insgesamt erzählt „Autonom“ jedoch eine spannende SF-Story voller mutiger, kreativer wirklich innovativer Ideen, die sich vielen Gegenwarts- und Zukunftsfragen widmet. Annalee Newitz schreibt in einer bildhaften und teilweise derben Sprache, die perfekt zum engagierten Inhalt passt. „Autonom“ ist ein innovativer Mix aus Dystopie und Utopie, der gut unterhält und reichlich Stoff für Gedanken über die Zukunft bietet.

Eva Bergschneider

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Autonom
Annalee Newitz
Science-Fiction
Fischer-Tor
Mai 2018
350

Funtastik-Faktor: 80

3 Gedanken zu „Autonom – Annalee Newitz

    1. Hey Katharina, ich bin was Erklärbärkapitel angeht auch ziemlich tolerant. 😉 Es kommt immer darauf an, wo und wie sie vorkommen. In „Autonom“ wurden einige dieser Erklärungen noch in der Schlussphase präsentiert, das hat für mich dann die Spannung rausgenommen. LG, Eva

      1. Okay, gut, in der Schlussphase ist es ungünstig :D.
        Aber wenn man Bücher wie „Der Graf von Monte Christo“ kennt, kann die moderne Literatur in der Hinsicht einfach kaum schocken :’D

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