Die schöne neue virtuelle Welt zeigt der Realität ihre dunkelste Seite
Die virtuelle Realität macht einen großen Teil der Lebenswirklichkeit der Menschen in Mirador, einem Stadtteil von Los Angeles, aus. Im Jahr 2050 wird das Internet über ein Implantat (Djinni genannt) direkt in das Gehirn der Menschen eingespeist. Kontinuierlich erscheinen vor dem Auge Nachrichten aus der Umgebung. Von Freunden, Familienmitgliedern und vielen Mitmenschen, die gerade online sind. Von Shops an der Ecke, von Nulis (allgegenwärtigen Service-Robotern) und von den Medien. Ständig strömen Informationen ein und werden durch ein Zwinkern aufgerufen oder weggewischt.
Natürlich gibt es auch VR-Spiele, in die man lebensecht eintauchen kann. Marisa, ein 17 jähriges Mädchen, erobert mit ihrem Team „Cherry Dogs“ die Spielewelt Overworld. Wann immer Marisa der Schule fern bleiben kann, oder nicht im Restaurant ihrer Eltern helfen muss, trainiert sie in Overworld oder testet illegale Manipulationen im Netz aus.
Einige aus dem Team sind auch im ‚richtigen‘ Leben ihre Freunde. Sahara lebt auch in Mirador, Anja in einem der reicheren Stadtteile. Der Taschendieb Bao gehört ebenso zur Clique, obwohl er kein Djinni hat und nur über sein Tablet online geht. Mit Omar, Anjas Freund und Sohn eines Mafiabosses, und Saif, dem Drogendealer, verbringen die Freunde einen Abend im Club. Anja hat wieder Bluescreen gekauft, ein Programm auf einem Stick, das über das Djinni installiert wird und wie eine Droge wirkt. Als das Mädchen schlafwandelnd und völlig außer Kontrolle auf den Highway läuft, wird den Freunden klar, wie gefährlich Bluescreen ist. Also stellt die Hackerin Marisa Nachforschungen an und erhält Einblick in einen geheimen Code, der einer Studentin zum tödlichen Verhängnis wurde. Marisa bleibt nicht mehr viel Zeit, herauszufinden, wer hinter der Entwicklung und Verbreitung dieser teuflischen Software steckt.
Wie nah ist uns Mirador 2050 bereits?
Es ist beängstigend und faszinierend zugleich, dass viele Elemente in der von Dan Wells entworfenen Zukunft, bereits heute Realität sind. Unser Smartphone ist längst viel mehr als nur ein Kommunikationsmittel geworden. Es ist der Organisator unseres Lebens. Es weist uns den Weg zum Ziel und teilt uns beim nächsten Mal mit, ob dort Verkehrsstaus zu erwarten sind. Längst nehmen Apps Einfluss auf unser Konsumverhalten und vermittelt einen ständigen Kontakt zu einer Vielzahl von Menschen. Online-Spiele in virtuellen Realitäten gibt es ebenfalls und viele von uns opfern ihnen bereits einen großen Teil der Freizeit.
In Mirador 2050 läuft zudem fast jede Aktivität automatisiert ab. Die Autos fahren Computer gesteuert (Tesla lässt grüßen) und sämtliche einfachen Dienstleistungen erledigen Roboter. Was zu einer Massenarbeitslosigkeit führt und die Kriminalität zum weitverbreiteten Lebensunterhalt macht.
In dieser Umgebung hat Dan Wells einen Cyber-Thriller angesiedelt, der vor allem eins ist: ultraspannend. Nachdem die Droge Bluescreen aufgetaucht ist, bekommen es die Protagonisten in jedem Kapitel mit immer gefährlicheren Gegnern und abgründigeren Machenschaften zu tun. Marisa, die geniale Hackerin wächst über sich hinaus, was ein wenig übertrieben heroisch wirkt. Andererseits sind es auch heute die jungen Menschen, die als ‚digital natives‘ intuitiv mit der virtuellen Realität umgehen. Und so sorgt, neben der Realitätsnähe, eine temporeiche, mitunter brutale Action für Dramatik und Beklemmung.
Wie immer hat Dan Wells seiner Geschichte in einem authentischen und zugleich souveränen Stil verfasst; eine gelungene Mischung aus ‚nerdy‘ und flüssig lesbarer Sprache. Lediglich die Dialoge in Spanisch haben den Lesefluss oft unnötig unterbrochen. Etwas ungünstig ist auch der Einstieg in die Story gewählt. Die ersten zwanzig Seiten spielen ausschließlich in Overworld, was den Eindruck vermittelt, dass sich auch die weitere Geschichte in der VR ereignet. Da das nicht der Fall ist, fragt man sich im Nachhinein, welchem Zweck diese Passage eigentlich dient.
Bei der Charakterisierung seiner Figuren hat der Autor einseitige Gut-Böse Klischees vermieden, Helden und Antagonisten haben ihre smarten und fiesen Seiten. Dennoch wirken sie etwas stereotyp und klischeehaft überzogen, denn unauffällige Durchschnittstypen sucht man vergeblich. Es fehlt zudem die Tiefe in den Beziehungen der Figuren zueinander, wie sie zum Beispiel die Protagonisten Kira und John (aus den „Partials“ und „Serienkiller“-Romanen) zu ihren Gegnern und Mitstreitern entwickelt haben. Auch kontroverse Töne habe ich vermisst. Trotz der furchtbaren Ereignisse in Mirador zweifelt niemand das vollständig digitalisierte Lebensmodell an. Doch was dem Auftaktband fehlt, liefern hoffentlich die Folgebände.
„Bluescreen“ ist ein vielversprechender und mitreißender Auftakt in die „Mirador“-Serie, die mindestens drei Bände füllen soll. Dan Wells hat eine Near-Future Welt mit vielen Bezügen zu unserer Realität erschaffen und präsentiert genau die Art von Verbrechen, die uns vielleicht am meisten ängstigt. Cyber-Kriminalität, die wir nicht hören und sehen können, die aber dennoch die gesellschaftliche Ordnung in den Abgrund zu stürzen vermag.
Eva Bergschneider
Mirador-Reihe, Band 1
Science-Fiction
Piper-Verlag
Oktober 2016
368
Funtastik-Faktor: 77