Eine Liebe im biblischen Dystopia
Die Herrin des Himmels gab den Menschen einen freien Willen. Angeführt vom schönsten Engel Morgenstern entbrennt ein Streit über die Konsequenz dieser Entscheidung: die einen wollen die Menschen für Fehlverhalten in die Hölle schicken, die anderen ihnen trotz Sünde die ewige Seligkeit gewähren. Der Himmel teilt sich und fortan begleiten ein dunkler und ein lichter Engel jeden Sterblichen.
Seit Jeásh beinahe in den Tod gesprungen wäre, vermag er als einziger Sterblicher die Engel zu sehen, die ihn begleiten. Nach einem Moment des Lichts ergreift ihn jedoch erneut die innere Leere. Voller Verzweiflung ritzt er sich seinen Namen in die Haut, auf der Suche nach seiner Identität. Etwas fehlt. Schließlich wissen auch die Ärzte und Pfleger in der Psychiatrie nicht weiter und rufen nach der Inquisition.
Jeáshs lichter Engel Malach gab seinem Schützling sein Herzblut, um ihn im Leben zu halten. Doch damit gab er sein Innerstes preis, verwandelte sich und verließ Jeásh. Der Dunkle, Ezariel, muss nun beide Rollen ausfüllen, obwohl er sich einst für die Seite Uriels, des Höllenwächters entschied. Er flieht mit Jeásh aus der Psychiatrie zu den Randbezirken der Stadt Toch Eleth. Es beginnt eine lange und qualvolle Suche nach Jeáshs wahren Namen. Ein weiter Weg bis zur endgültigen Entscheidung zwischen Licht und Schatten, Verbot und Gefühl, liegt vor ihnen.
»“Etwas fehlt mir und ich weiß nicht, was es ist. Aber ich sehne mich danach und suche es, überall, jeden Tag, seitdem ich lebe. Aber ich kann es nicht finden. Mein eigener Name Jeásh: Ich sage ihn, aber er bedeutet nichts für mich, nicht wirklich, verstehst Du? Er rührt an etwas, aber ich kann ihn nicht hören.« [S. 87]
Jenseits der Gut-Böse Grenzen
Biblische Motive und Figuren kamen mit der Dark-Fantasy in die Literatur und in visuelle Medien. Über Engel und Dämonen erzählen Autor*innen wie Cassandra Clare und sie agieren in TV-Serien wie „Supernatural“. „Das Morgenrot und die Namen der Finsternis“ hat allerdings eher wenig mit diesen Geschichten gemein. Denn es kommt ohne generische Heldenfiguren aus und legt sich nicht darauf fest, wer nun zu den „Guten“ oder „Bösen“ gehören mag. In der offensichtlichen Distanz zum Konzept einer christlichen Moral liegt eine besondere Stärke dieses Romans. Gerade in dem gewählten, biblischen Setting.
Diese Ambivalenz wird in der Entwicklung der beiden Engel ebenso deutlich, wie glaubwürdig geschildert. Der weiße Engel verliert sich in seinem Altruismus selbst und wird zum Monster. Der schwarze verwandelt sich zum liebenden Beschützer. Der Weg, den Ezariel zurücklegt, fordert Umkehr, Wandel und Neuorientierung weit über die Grenzen seines Daseinszwecks hinaus. Ein unendlich leidvoller Prozess und deshalb so eingängig.
Ähnlich ergeht es Jeásh, der aus der Selbstzerstörung in einen Kampf um das Leben und die Liebe findet, schließlich seine Identität ergründet und erneut vor der Frage steht, wohin sein Weg ihn führt. Die Charakterisierung der Protagonisten gleicht einem Psychogramm, dass ihr Innenleben in allen Facetten und Formen ausleuchtet. Auch die Nebenfiguren sind alles andere als Statisten, sondern individuelle Persönlichkeiten und Wegbegleiter.
Wort- und bildgewaltig
Mit seinen knapp 240 Seiten ist „Das Morgenrot und die Namen der Finsternis“ nicht gerade ein epischer Roman. Der Storyaufbau ist szenisch gehalten, Handlung und Perspektiven wechseln mitunter spontan. Vielleicht liegt es daran, dass manche Szenen nicht ganz ausgereift erscheinen oder die Geschichte nicht weiterbringen. Am Ende des Prologs hätte ich gern mehr darüber erfahren, warum Morgenstern die Menschen erst den Gebrauch des freien Willens lehren, und anschließend zur Hölle schicken will. Auch Ezariels erster Besuch des Abgrunds wirkt merkwürdig aus dem Kontext gerissen.
Schon in „Nirgendland“ hat mich Fräulein Spiegels wort- und bildgewaltige Sprache sehr beeindruckt. Hier ergänzen sich detailreiche Beschreibungen, eingängige Dialoge und ausdrucksstarke Bilder zu etwas Besonderem. So originär und speziell, dass es sich schwer in ein Genre einordnen lässt. Als Dark-Fantasy, Dystopie oder Dark-Romance mag es bezeichnet werden, doch diese Bezeichnungen greifen zu kurz. Festzuhalten bleibt, dass „Das Morgenrot und die Namen der Finsternis“ ein äußerst intensives und überwiegend düsteres Leseerlebnis um die verzweifelte Suche nach innerem Frieden und einer unmöglichen Liebe bietet. Auf der Metaebene philosophiert die Geschichte über gegensätzliche Aspekte wie das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung und die Rolle des Schicksals.
„Das Morgenrot und die Namen der Finsternis“ ist kein Easy-Reading, sondern eine herausfordernde Lektüre, die Aufmerksamkeit fordert. Als Belohnung erhalten die Leser*innen eine Geschichte, die einem epischen Drama gleicht. Verstörend und gleichermaßen zu einem Blick jenseits der Mauern moralischer Dogmen anregend.
Nicht oft äußere ich mich zum Buchcover, doch in diesem Fall möchte ich das Bild auf dem Buch gern loben. Im Vordergrund eine schlichte Phiole, gefüllt mit blutroter Flüssigkeit, eine Wüstenlandschaft und im Hintergrund die Silhouette einer orientalisch anmutenden Stadt mit Industrieanlagen. Selten habe ich ein so schön gestaltetes, anregendes und zur Stimmung der Geschichte passendes Cover auf einem Buch gesehen. Melanie Philippi hat hier großartige Arbeit geleistet und ein kleines Kunstwerk erschaffen. Danke dafür und bitte mehr davon.
Eva Bergschneider
Fantasy
Edition Roter Drache
März 2020
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Melanie Philippi
77