Aus einer Anime-Serie entstand ein Fantasy-Roman
Es geschah im Jahr 2005, beziehungsweise hierzulande 2006, als in der Zeichentrickserie „Avatar – Der Herr der Elemente“ in einem Eisberg ein kleiner Junge mit dem Namen Aang gefunden wurde. Das war der Beginn einer TV-Serie, die sich im Laufe der nächsten drei Jahre als eine der einflussreichsten ihrer Art und Zeit entpuppen sollte. Aufgrund des Erfolges folgten eine große Anzahl an Comics und Videospielen, aber auch einige Romane. Mit „Die Legende von Korra“ kam schließlich eine nicht minder erfolgreiche Fortsetzung auf den Bildschirm.
Das Setting war etwas besonderes. Die Reihe spielte in einer Welt, die große, asiatische Einflüsse aufwies und mit Figuren, die eines von vier Elementen, Erde, Feuer, Wasser oder Luft, bändigen konnten. Vier Länder existierten, zum Beispiel die Feuernation oder das Erdkönigreich, wo eben ein Großteil der entsprechenden Elementarbändiger lebten. Der Avatar hatte die Aufgabe, den Frieden zwischen diesen Nationen zu bewahren, weshalb er oder sie der Einzige war, der alle vier Elemente beherrschte. Nach dem Tod des aktuellen Avatars wurde dessen nächste Inkarnation in einem anderen Land geboren.
Im Laufe der Serie spielten verschiedene frühere Inkarnationen eine Rolle. Unter ihnen stach Kyoshi hervor. Die im Erdkönigreich zur Welt gekommene Avatarin fiel durch ihre enorme Größe und ihr Aussehen auf. Denn sie war wie eine Darstellerin aus einer chinesischen Oper geschminkt, hatte einen markanten Kopfschmuck und bändigte ihr Element mithilfe zweier Fächer. Über ihr Leben war nur wenig bekannt, was sich jetzt mit F. C. Yees Roman „Der Aufstieg von Kyoshi“ ändern wird. Der Roman ist der Auftakt zu einer Dilogie. Wann der zweite Teil hierzulande herauskommt, ist bis dato unklar.
Ein falscher Avatar
Avatar Kuruk ist seit Jahren tot. Und noch immer ist keine neue Inkarnation erschienen, obwohl viele Leute bereits die ganze Welt durchforstet haben. Bis zwei ehemalige Weggefährten Kuruks mit Yun endlich den lang ersehnten Nachfolger präsentieren, der Stabilität in die Welt bringen soll. Eine seiner Bediensteten ist ein junges Mädchen mit dem Namen Kyoshi.
Es stellt sich heraus, dass Yun nicht der Avatar ist, sondern das Produkt eines Schwindels. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen den Verschwörern, bei denen ein guter Freund von Kyoshi stirbt. Sie flieht und beschließt, auf eigene Faust die anderen Elemente beherrschen zu lernen, um Rache an dem Mörder zu nehmen. Doch dafür muss sie auf die Daofei vertrauen, eine Gruppe von Kriminellen und Gesetzlosen.
Für mich als Fan der „Avatar: Der Herr der Elemente“-Reihe war „Der Aufstieg von Kyoshi“ eine Art Wiedersehen. Ich schaute seinerzeit die Serie gern und mochte besonders die reichhaltige Mythologie, die die Handlung begleitete. So blieb mir Kyoshi in bester Erinnerung. Umso überraschter war ich, als der Cross Cult-Verlag „Der Aufstieg von Kyoshi“ ankündigte. Der überwiegende Teil der Veröffentlichungen zu dem Franchise konzentrieren sich entweder auf Aang oder Korra, die beide durch ihre jeweiligen Serien sehr bekannt sind.
Eine tragische und dramatische Geschichte
Yees Geschichte ist von Beginn an tragisch und dramatisch. Es geht um die Sehnsucht nach Macht, aber auch nach Geborgenheit. Ein falscher Avatar wird präsentiert, vorgeblich, um einen Krieg zu verhindern und mehr Zeit zu gewinnen, den richtigen zu finden. Als sich herausstellt, dass Kyoshi diese gesuchte Person ist, kommt die Machtgier einzelner Leute zum Vorschein. Diese sind, um die Kontrolle zu behalten, sogar bereit, ihre Freunde zu töten.
Kyoshi selbst ist zunächst eine unsichere Person. Ihre Eltern verließen sie, als sie ein Kind war und hinterließen ihr nur einen Kopfschmuck und einen Fächer. Sie hat wenige Freunde, darunter die Feuerbändigerin Rangi. Als sie sich als der Avatar entpuppt, was ihr komplettes Leben durcheinandergewirbelt, verhindert nur der Rachedurst, dass die durchdreht. Ebenso motiviert er sie, aufzubrechen, um die Kontrolle über die Elemente Luft, Wasser und Feuer zu erlernen. Ihr Ziel ist es, der für all ihr Leid verantwortlichen Person auf gleichem Niveau entgegenzutreten.
„Der Aufstieg von Kyoshi“ ist kein Roman, der einfach zu verdauen ist. Im Gegenteil: Genau wie man es aus der Fernsehserie kennt, beschreibt er moralisch schwierige Situationen. Einerseits sind die Daofei zwar eine charmante Gruppe mit vielen unterschiedlichen Charakteren. Andererseits sind sie eben eine kriminelle Bande, die gemeinsam mit dem Avatar krumme Touren drehen. Mit ihnen gerät Kyoshi wiederholt in Situationen, die sie zwingen, ihre Einstellung zu überdenken.
Großartiger Roman. Jedoch mit einer überflüssigen Nebenhandlung
Es ist interessant zu lesen, wie sehr Kyoshi im Laufe des Romans wächst. Sie findet immer mehr über sich selbst heraus, auch zu wem sie sich hingezogen fühlt. Dominiert wird alles durch den Wunsch nach Rache, wobei sie die schmerzhafte Lektion erfährt, dass diese nicht der einzige Lebenssinn sein kann.
Die Geschichte wird nicht allein aus Kyoshis Perspektive erzählt. Auch einer ihrer Gegner aus den Reihen derjenigen, die von Yun als Avatar profitiert haben, dient als Erzähler. Wie für „Avatar“ üblich, ist dieser kein 08/15-Antagonist. Stattdessen werden seine Motivation und Haltung erstaunlich differenziert und nachvollziehbar dargestellt, obwohl ihn am Ende immer noch sein Machthunger dominiert.
Das Buch ist spannend und exzellent geschrieben. Eine Sache stört jedoch: eine Szene, auf die lange hingearbeitet wird. Die Daofei sollen jemanden befreien. Später stellt sich heraus, dass dessen Befreiung schlimme Konsequenzen nach sich zieht, weshalb es kurz darauf zu einer Konfrontation zwischen Kyoshi und ihm kommt. Dafür dass der Autor diese Befreiung äußerst dramatisch inszenierte, hat der Befreite am Ende für die Gesamthandlung enttäuschend wenig Bedeutung. F. C. Yee hätten diesen Handlungsfaden weglassen können, es hätte keinen spürbaren Unterschied gemacht.
„Der Aufstieg von Kyoshi“ ist ein großartiger Roman, nicht nur für „Avatar“-Fans, sondern für alle Leser, die neugierig auf Fantasy mit asiatischen Motiven sind. Vorwissen wird nicht benötigt.
Götz Piesbergen
Avatar - Herr der Elemente 1
Fantasy (Asia)
Cross Cult Verlag
Dezember 2019
503
Jung Shan Chang
Funtastik-Faktor: 90