Der Gott am Ende der Straße – Louise Erdrich

Eine feministische Dystopie der Gegenwart

Der Gott am Ende der Strasse © Aufbau Verlag

Die Erzählerin des Romans „Der Gott am Ende der Straße“ ist die 26-jährige Cedar Hawk Songmaker aus Minneapolis. Sie ist schwanger und schreibt für ihr Ungeborenes ein Tagebuch. Ihre biologischen Eltern sind Ojibwe, American Natives. Nach ihrer Geburt wurde sie von Glen und Sera Songmaker adoptiert, zwei liberalen Hippies, Buddhisten und glücklich verheirateten Veganern. Cedar, die aus Protest irgendwann Katholikin wurde, dachte lange Zeit, etwas Besonderes zu sein. Bis sie vor etwa einem Jahr von Sera einen Brief ihrer biologischen Mutter Mary „Sweetie“ Potts bekam, aus dem hervorging, dass diese keine spirituellen Kräfte hat, keinen Kontakt zu heilenden Geistern oder Totemtieren. Sondern einfach nur bürgerlich ist. Cedar besucht zum ersten Mal in ihrem Leben Sweetie im nahegelegenen Reservat der Ojibwe.

Kehrtwende der Evolution

Die Welt, in der Cedar lebt, durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Es werden zunehmend Kinder geboren, die Merkmale früherer Evolutionsstufen aufweisen. Die Regierung richtet deshalb Geburtszentren ein, die von der dubiosen religiösen Organisation „Unborn Protection Society“ (UPS) betrieben werden. Schwangere Frauen sollen sich freiwillig in einem der Zentren melden. Wer der Anordnung nicht Folge leistet, wer einer Schwangeren Unterschlupf gewährt, begeht eine Rechtsverletzung. Cedar versucht die Songmakers zu erreichen, die jedoch geflohen sind. Ein qualitativer Sprung vollzieht sich, als die neue Regierung von der „Church of the New Constitution“ gebildet wird.

Die Umkehrung der Evolution, von der zu Beginn des Romans die Rede ist, beschreibt keinen linearen Pfad, sondern verläuft diffus. Viele Frauen sterben bei der Geburt, weil ihr Körper nicht auf diese Kinder eingestellt ist. Der evolutorische Vorgang geht einher mit sozialen und politischen Veränderungen. Die Regierung entwickelt Interesse daran, die Kontrolle über schwangere Frauen zu erlangen. Diese werden aufgefordert, sich als „Kämpferinnen für das geliebte Land in einem der Empfangszentren zur Künftigen Wohnstatt“ zu melden. Da nur wenige Frauen freiwillig dazu bereit sind, installiert die Regierung ein repressives Regelsystem. Dessen Durchsetzung erfolgt mithilfe polizeilicher Gewalt bei gleichzeitiger Außerkraftsetzung elementarer Bürgerrechte.

Die fürsorgliche Mutter kommt auf leisen Sohlen

Das Grauen schleicht sich langsam in die Handlung hinein. Nach ihrer Rückkehr aus dem Reservat geht Cedar zur Kontrolluntersuchung. Ihr Gynäkologe stellt fest, dass der Fötus in hervorragender Verfassung ist und rät ihr, unterzutauchen. Manche Schwangere und ihre Angehörigen bereiten sich wie Prepper auf ein unbestimmtes apokalyptisches Szenario vor. Andere versuchen ihr bisheriges Leben einfach fortzusetzen.
Der Standard in Dystopien ist ein totalitäres Herrschaftssystem unter männlicher Führung. Bei Erdrich scheint zumindest die Herrschaft weiblich zu sein, die sich im Zusammenhang der Kontrolle von Frauen und Fortpflanzung äußert. Sie nennt sich „Mutter“ und beschreibt sich als besorgt und sorgend, mütterlich eben.

Wir passen uns an

Als Cedar mit Sweeties Freund Eddy über die Entwicklungen spricht, ihm sagt, die Welt gehe vor die Hunde, antwortet er, sie gehe immer vor die Hunde und sie würden sich schon anpassen.
Erdrich situiert das Grauen in einer banalen Alltagswelt, in der, wie Cedar schreibt, die Welt endet, indem alles verrückt spielt. Und die Menschen dennoch darin normale Dinge machen.
In einer der schlimmsten Szenen sieht Cedar, wie auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums eine „präpartale Ingewahrsamnahme“ durchgeführt wird. Eine schwangere Frau wird von zwei Polizeibeamten, einem Mann und einer Frau, in den Wagen gezwungen, um in ein Geburtszentrum überführt zu werden. Ihr Mann leistet Widerstand und droht erschossen zu werden. Ihm und der fünfjährigen Tochter bleibt nur, mitanzusehen, wie die Frau aus ihrem Leben entfernt wird. Die anderen Leute auf dem Parkplatz stehen da und schauen zu.

Durch die Veränderungen direkt bedroht sind nur schwangere Frauen. Um die Kontrolle über sie zu erlangen, nimmt man ihnen viele ihrer Grundrechte. Frauen, die nicht im gebärfähigen Alter sind, und Männer sind nur indirekt betroffen. Die meisten Menschen verhalten sich als Sofortanpasser, manche werden denunziatorisch aktiv und arbeiten bereitwillig für die neue Weltordnung, wieder andere machen nur, was man ihnen sagt und halten das System so am Laufen.

Mitarbeit an der eigenen Unterdrückung

Nachdem die religiöse Organisation die Macht übernommen hat, verläuft die Unterdrückung weiter auf die direkte bisher ausgeübte Weise, wird aber ergänzt um neue Sprachregelungen, die insbesondere um Mutters Fürsorge angelegt sind. Damit versucht das Herrschaftssystem, parallel zur Kontrolle über den weiblichen Körper die über das Bewusstsein zu erlangen.
Die schwangeren Frauen werden gezwungen, zu ihrer eigenen Unterdrückung beizutragen, indem sie die neuen Rollenvorstellungen und Beschränkungen annehmen und verinnerlichen. Tun sie dies nicht, wird die Repression intensiviert. Auf perverse Weise lässt sich also konstatieren, dass sie sich entscheiden können, aktiv zu ihrer Unterdrückung beizutragen oder stärker unterdrückt zu werden und dadurch stärker in eine passive Position gedrängt zu werden.

„My Body! My Choice!“

Dystopien bilden allgemein fiktionale Gesellschaften ab und warnen vor bestimmten Entwicklungen und ihren negativen Folgen, herbeigeführt durch destruktive politische Kräfte. Dazu werden mehr oder weniger ausgestaltete Welten vorgestellt, in denen die beschriebenen Ereignisse plausibel sind oder sein sollen. Im Regelfall handelt es sich um Zukunftsentwürfe menschlicher Gesellschaften, die Elemente von Gegenwartsgesellschaften enthalten.
Louise Erdrichs USA dagegen sind eine Gesellschaft der Gegenwart, in die sich die Dystopie langsam hineinfrisst. In dieser durch regressive Evolution bestimmten Welt spielen Vorstellungen von technologischem Trans- oder Posthumanismus keine Rolle, gleichwohl aber Fragen nach der Definition von Menschlichkeit und den Bestimmungsgründen für moralisches Handeln.
Die feministische Dystopie ist gedanklich der Bewegung „My Body! My Choice!“ nahe, in einem Land, in dem im Bibelgürtel Staaten wie Alabama und Georgia in jüngster Zeit ein repressives Abtreibungsrecht installiert haben, das bis dahin kaum jemand für möglich gehalten hätte.

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Eine Rezension von Gastredakteurin Almut Oetjen – DANKE!

Der Gott am Ende der Straße
Louise Erdrich (Übersetzung: Gersine Schröder)
Feministische Dystopie (Phantastik Plus)
Aufbau Verlag
März 2019
360

Funtastik-Faktor: 78

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