Die Geschichte von Kullervo – J.R.R. Tolkien

Tolkiens erste Kurzgeschichte

Die Geschichte von Kullervo - J.R.R. Tolkien© Klett-Cotta
Die Geschichte von Kullervo © Klett-Cotta

Im Jahr 1911 las Tolkien während seiner Schulzeit an der King Edward’s School in Birmingham eine englische Übersetzung des Kalevala, das häufig bezeichnet wird als Nationalepos Finnlands. Später beschäftigte er sich intensiver mit dem Thema und wollte, letztlich erfolglos, im Selbststudium Finnisch lernen. Das Kalevala ist ein Epos, bestehend aus 22.795 Versen, organisiert in fünfzig Gesängen. Die Sammlung von Mythen und Heldensagen, Gedichten und anderen Erzählformen, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von Elias Lönnrot zusammengestellt. Die Schönheit und Fremdartigkeit der Texte faszinierte Tolkien. Insbesondere die Geschichte des jungen Kullervo hatte es ihm so angetan, dass er sie übersetzen wollte. Sie wurde Tolkiens erster wichtiger Versuch, an einer Mythologie für England zu arbeiten.

„Die Geschichte von Kullervo“ ist in seiner Gesamtheit eine Studie von Verlyn Flieger, die im Jahr 2015 bei HarperCollins erschien. Das Buch enthält Tolkiens via Übersetzung vorgenommene Aneignung der Geschichte, weiter zwei Fassungen eines Essays, den er über das Kalevala geschrieben hat. Die drei Texte sind Fragment geblieben und werden von Flieger mit profunden, deshalb hilfreichen, aber nicht ausufernden Kommentaren und Erläuterungen begleitet.

Der Inhalt in Kürze – Keine schöne Geschichte

Die Handlung ist nicht in einer konkreten, sondern einer mythischen Zeit verortet: „als der Zauber noch jung war“. Untamo ermordet seinen Bruder Kalervo, Kullervos Vater, und entführt seine schwangere Schwägerin. Kullervo wird in Gefangenschaft geboren. Er schwört als Kind Rache an Untamo, der dreimal vergeblich versucht, ihn umbringen zu lassen. Kullervo wird in die Sklaverei verkauft und von der Ehefrau seines Besitzers misshandelt, weshalb er dafür sorgt, dass sie von Wölfen und Bären lebendig gefressen wird. Er flieht und erfährt von einer Waldfrau, dass seine Familie noch lebt. Auf dem Weg nach Hause trifft er auf ein Mädchen, das er entführt und mit dem er zusammenlebt, bis sie einander von ihrer Herkunft erzählen.

Die kurze Inhaltsangabe deutet bereits an, dass Kullervo keine schöne Geschichte erzählt. Wir erfahren in den Kommentaren, dass die finnische Sprache eine wichtige Basis für Tolkiens Ursprache Qenja war, dass Túrin Turambar, der tragische Anti-Held aus „Die Kinder Húrins“, Ähnlichkeiten mit Kullervo aufweist. Tolkien hat den Kullervo während des Vorgangs der Übertragung ins Englische seinen Vorstellungen angepasst. In der Vorlage gibt es den Hund Musti, nicht jedoch als übernatürliches Tier, auch nicht die Zwillingsschwester Wanōna, deren Name Weinen bedeutet. Kullervos Mutter ist in Tolkiens Adaption des Stoffes bedeutsamer.

Weniger ein Fantasybuch denn eine literaturwissenschaftliche Arbeit

Den größten Teil der 240 Seiten aus „Die Geschichte von Kullervo“ beansprucht mit 74 Seiten Umfang der zweisprachig wiedergegebene Haupttext, dem ein Vorwort von zwei Seiten und eine Einleitung von sechzehn Seiten vorangestellt sind, beide verfasst von der Herausgeberin Verlyn Flieger. Auf die Geschichte folgen zweisprachige Transkripte der handschriftlich überlieferten Namensliste (vier Seiten) und Handlungsentwürfe (sechs Seiten) Tolkiens. Zwölf Seiten Anmerkungen und Kommentar Fliegers schließen sich an. Der Übersetzer Joachim Kalka hat hier nicht vollständig übersetzt, sondern nur die Anmerkungen, die mit Blick auf die deutsche Übersetzung wichtig sind. Manche Leser mögen einwenden, da die Originalfassung mit abgedruckt ist, hätte man die anderen Anmerkungen im Original belassen können, aber Kalkas Entscheidung folgt einer nachvollziehbaren Logik.

Flieger leitet danach auf zwei Seiten über zu den beiden Aufsätzen Tolkiens. Der Manuskriptentwurf „Über >Das Kalevala< oder Land der Helden“ (25 Seiten) und das Typoskript „Das Kalevala“ (28 Seiten) nebst Anmerkungen und Kommentar (7 bzw. 3 Seiten). Den Band beschließen ein Essay von Flieger über „Tolkien, das Kalevala und >Die Geschichte Kullervos<“ (32 Seiten) sowie eine vier Seiten lange Bibliographie. Weiter enthält er eine Farbreproduktion des Bildes „Das Land Pohja“, von Tolkien am 27.12.1914 gemalt, und Faksimiles von sechs Seiten Handschriften Tolkiens. Die Inhaltsübersicht ist detailliert, weil gelegentlich behauptet wird, das Buch sei reine Geldschneiderei und enthalte im Grunde nur ein etwas über dreißig Seiten langes Fragment nebst überflüssigem Beiwerk. Man sieht, dass das Buch eine ganze Menge Tolkien zum Thema Kalevala enthält.

Diese Texte sind weitab davon, leicht verständlich zu sein. Und so dürfte man es als Bereicherung ansehen, Forschungsergebnisse von Flieger zur Verbesserung der Rezeptionsmöglichkeiten zu bekommen. Fliegers Textausgabe enthält zwar einiges an dem Verständnis zuträglichen Material, sie lässt aber den Text für sich stehen, dies mit all seinen Unvollkommenheiten, die sich aus seiner fragmentarischen Gestalt ergeben.

Das Manuskript, so lesen wir bei Flieger, endet mitten in der dramatischsten Szene mit einem abgebrochenen Satz. Tolkien verwendete verschiedene Plotelemente für seine eigenen Geschichten, darunter machtvolle magische Objekte, sich auf eine Suche begebende Waisen, Inzest, Kämpfe zwischen Brüdern.
Flieger stellt Verbindungen her zu klassischen Werken, darunter zum Drama „König Ödipus“ von Sophokles und zum frühmittelalterlichen irischen „Amlodhi“, vor allem aber sieht sie den Kullervo als Vorlage für William Shakespeares „Hamlet“: eine Rachegeschichte über einen jungen Mann, dessen Vater vom Onkel getötet wurde, die alte Geschichte vom Brudermord. Sie ordnet die Geschichte im Werk Tolkiens ein und setzt sich mit Forschungsbeiträgen zum Kullervo kritisch auseinander.
Tolkien reicherte seine Fassung der Kullervo-Erzählung mit längeren Beschreibungen des reizvollen und fremden Landes an.

Finnland, seit dem 12. Jahrhundert unter schwedischer, später russischer Herrschaft, wurde erst 1917 unabhängig. Im letzten Jahrhundert unter Fremdherrschaft entwickelte sich das Kalevala zu einer Art Symbol finnischer Identität. Tolkien gefiel diese Bedeutung des Textes als nationaler Mythos, und er wünschte sich etwas Vergleichbares für England, das zwar keltische Geschichten besaß, aber keine eigene Mythologie.
In seiner Erzählung „Die Geschichte von Kullervo“ verbindet J. R. R. Tolkien Sprache, Mythologie und Kultur miteinander und mit der Tragik der menschlichen Existenz.

DANKE an Gastrezensentin Almut Oetjen

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Die Geschichte von Kullervo
J.R.R Tolkien (Hrsg: Verlyn Flieger, Übersetzung: Joachim Kalka)
Fantasy
Klett-Cotta
Februar 2018
240

Funtastik-Faktor: 84

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