Kniffliger Phantastik-Krimi
Aiden Bishop erwacht mitten im Wald und kann sich an nichts erinnern. Nicht einmal an seinen Namen. Lediglich ein Wort gibt sein Gedächtnis preis: Anna. Nachdem Aiden sich erhoben hat, hört er eine Frau schreien und einen Pistolenschuss. War dies Anna und ist sie gerade ermordet worden? Noch absurder wird es, als der vermeintliche Mörder Aiden einen Kompass zusteckt und ihn auffordert, nach Osten zu gehen. Der Richtung folgend erreicht er ein Herrenhaus, das schon bessere Tage gesehen hat, aber gerade für eine Gesellschaft herausgeputzt wird. Die umhereilenden Dienstboten ignorieren ihn und seine Bitte, die Polizei zu verständigen. Schließlich spricht ihn ein Mann in Cricket-Outfit an: „Sebastian?“
Sebastian Bell ist Arzt und einer von vielen Gästen der feinen Gesellschaft, die im Blackheath Herrenhaus der Familie Hardcastle zu einem Maskenball eingeladen sind. Was Aiden Bishop dort zu suchen hat und warum er jeden Morgen im Körper eines anderen Gastes aufwacht, bleibt lange ein Geheimnis. Aiden erlebt, wie der Wetteransager Phil Connors in der Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ ein und denselben Tag wieder und wieder. Als Tutoren in diesem Spiel fungieren ein Mann im Pestdoktorkostüm und eine innere Stimme. Der Pestdoktor erklärt, dass es Aidens Aufgabe ist, den Mörder der Tochter des Hauses, Evelyn, zu überführen.
Mord oder Selbstmord?
Evelyn stirbt jeden Abend um 23 Uhr am See. Sie hält sich eine Pistole an den Bauch und drückt ab. Ist das nicht ein Selbstmord? Jeder Tag, jede Person, in die Aiden schlüpft, muss ihn seinem Ziel näher bringen. Sonst entkommt er dieser Zeitschleife nicht. Dabei übernimmt jeder Wirt mehr von Aidens Persönlichkeit. Und die ist mitunter an Abscheulichkeit kaum zu überbieten. Dazu kommt ein Gegenspieler, der seinerseits vor Mord nicht zurückschreckt. Und Rivalen, die sich ebenfalls auf Mörderjagd befinden. Jeden Tag aufs Neue.
„Wach auf! Aiden, wach auf!“ [..]
Ich erhebe mich von meinem Stuhl und gehe zur Tür. Wohlvertraute Schmerzen erwachen in meinem ganzen Körper wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen. Die Scharniere der Tür sind ausgeleiert,und ihr unteres Ende schleift beim Öffnen über den Boden. Dahinter kommt die schlaksige Gestalt Gregory Golds zum Vorschein, der in sich zusammengesunken im Türrahmen lehnt. [..] Er hält die Schachfigur in der Hand, die mir jemand (geändert) gegeben hat, und das, zusammen mit dem Umstand, dass er meinen wirklichen Namen kennt, reicht aus, um mich davon zu überzeugen, dass ich einen weiteren meiner Wirte vor mir habe. [S. 302]
Schwieriger Einstieg ins Rätsellabyrinth
Ein Wort der Warnung: Die Geschichte in „Die sieben Tode der Evelyn Hardcastle“ ist noch viel komplizierter, als es die Inhaltangabe nahelegt. Möglicherweise habe ich den Roman am Anfang nur deshalb nicht weggelegt, weil ich mich vollkommen mit dem komplett verzweifelten Aiden im Körper von Sebastian Bell identifizieren konnte. Zudem dauert es eine Weile, bis die Handlung am titelgebenden Mord an Evelyn Hardcastle ankommt. Den wollte ich wenigstens einmal mitbekommen. Der zweite Tag wird zunächst kurz abgehandelt und am dritten Tag beginnt die eigentliche Ermittlungsarbeit. Zunächst mit kryptischen Nachrichten und Geschichten an Nebenschauplätzen, die wenig mit dem Mord zu tun haben. Doch Geduld wird belohnt. Nach und nach finden einige Puzzleteile zueinander und die konfuse Story wandelt sich zum Rätselkrimi, der sein komplexes und außergewöhnliches Unterhaltungspotenzial entfaltet.
Blüht sprachlich und inhaltlich auf
Was diesen Roman trotz der anfänglichen Stolpersteine zu einem echten Leseerlebnis macht, ist die wunderbare Sprache Stuart Turtons. Er versteht es nicht nur diese bizarre Situation mit ausnahmslos kuriosen Figuren in angemessen drastischen Bildern darzustellen. Er beschreibt darüber hinaus die sich wandelnden Charaktereigenschaften Aidens in den verschiedenen Wirten absolut glaubwürdig. Es ist faszinierend, wie dieser zunehmend die Eigenarten der Wirte nutzt, um Licht in diesen undurchsichtigen Fall zu bringen. Und zugleich droht, sich selber zu verlieren. Dabei offenbaren sich Abgründe wie Skrupellosigkeit, Gewaltbereitschaft und Verrat. Aber auch Freundschaft und Loyalität begegnen Aiden in Momenten, in denen man am wenigsten damit rechnet. Es ist ein kriminalistisches und menschliches Verwirrspiel, wie es extremer kaum geht. Jeder verbirgt sich hinter einer Maske und spielt sein Spiel. Erst die Betrachtungsweise durch mehrere Perspektiven ermöglicht es, der Wahrheit ein Stück näherzukommen. Zugleich wirkt die Szenerie irrealer und düsterer, je mehr Details darüber bekannt werden. Dieses Potpourri an Rätseln und Geheimnissen, Scharaden und Hinweisen, Richtungen und Hintertürchen, Spiegel- und Zerrbildern präsentiert der Autor in einer zeitgemäßen und gleichzeitig zum spätviktorianischem Zeitalter passenden Sprache. Und einem filigranen, klug konzipierten Storyaufbau.
Das ist das, was noch von dem ursprünglichen Aiden Bishop übriggeblieben ist – von jenem Mann, der damals nach Blackheath kam. Mittlerweile ist es wenig mehr, als ein Bruchstück, ein kleines Fragment seiner Persönlichkeit.[…] Wenn sie anfangen, sich selbst zu verlieren, dann achten sie auf jene Stimme. Sie ist ihr Leuchtturm.“ [S. 385]
Finale furioso
Stuart Turton kennt sich in seinem Storylabyrinth bestens aus und schafft es, die Ereignisse am letzten Tag noch einmal komplett auf den Kopf zu stellen. Erstaunlich, wie logisch sich dennoch alles fügt. Beiläufige Anmerkungen ergeben plötzlich Sinn und komplettieren das fertige Bild. Ich konnte trotz der Komplexität der Geschichte und ihrer Struktur keine Logiklöcher ausmachen. Und das, obwohl der Roman „Die sieben Tage der Evelyn Hardcastle“ an Skurrilität und Extravaganz kaum zu überbieten ist.
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Eva Bergschneider
Phantastik Plus (Phantastischer Krimi)
Tropen Verlag
August 2019
304
Funtastik-Faktor: 85