Spektakulärer deutscher Steampunk – reloaded
Es ist der Anfang des 20. Jahrhunderts. Fortschrittsglaube und das industrielle Zeitalter sind unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Aber irgendjemand scheint sich genau dieser Unaufhaltsamkeit entgegenzustellen. In erschreckendem Maße gibt es unerklärliche Grubenunglücke, Sabotageakte und Explosionen überall in Europa. Der Expolizist Seyferd, ein rationaler, zynischer Mensch, und Piscator, ein verschrobener Gelehrter, werden auf den Fall angesetzt. Wer sind die Attentäter, die offensichtlich wörtlich im Untergrund leben. Und was bedeutet das für die Welt?
Bis ins ferne China reicht der Einfluss der Kolonialmächte, die auch hier die Bodenschätze und Reichtümer erschließen wollen. Deutsche Ingenieure kommen dazu nach China, unter ihnen Anton Slabon, mit Frau und Kind. Seine Tochter Esther erregt mitten in den Wirren des Boxeraufstands mit paranormalen Fähigkeiten die Aufmerksamkeit mächtiger Strippenzieher. Und wer genau ist Marie Frost, und ist es wirklich ein Zufall, dass gerade sie als Esthers Kindermädchen arbeitet?
Viel weltliche Historie in der Alternativwelt
Andreas Zwengels Roman „Die Welt am Abgrund“ spielt in Deutschland Anfang des 20. Jahrhunderts, zur Zeit Kaiser Wilhelms II., aber auch in Wales, in China und schließlich in der Schweiz. In den ersten Kapiteln bildet der Boxeraufstand in China unter Beteiligung kaiserlicher Truppen den Hintergrund der Handlung. Am Handlungsort Berlin finden wir das bekannte Weltbild des frühen 20 Jahrhunderts vor. Allerdings ändert sich das, sobald die Albino-Menschen aus dem Untergrund in die Handlung eingreifen. Zwengel ersinnt eine unterirdisch lebende Parallelgesellschaft, die an die „Morlocks“ aus H. G. Wells „Die Zeitmaschine“ erinnert.
Steampunk typische Technik und eine alte Sprache
Steampunk typische Technik führt der Autor vor allem am Ende des Buchs ein. So gleitet im Finale ein Land-Leviathan durch die Schweizer Grenzregion, hier lässt Michael Moorcocks früher Zeitnomaden-Roman „The Land Leviathan“ (1974) grüßen. Zeppeline dürfen natürlich auch nicht fehlen. Sprachlich ist der Roman unauffällig und flüssig lesbar gehalten. Man liest keine in einer anderen Sprache verfassten Dialoge oder Begriffe, wie das in anderen Steampunk Büchern oft der Fall ist. Und doch kommt auch Zwengel nicht ganz ohne eine alternative Sprache aus und führt das bereits im Mittelalter ausgestorbene Burgundisch als Mundart seiner Unterirdischen ein.
Andreas Zwengel präsentiert in „Die Welt am Abgrund“ einen waschechten Verschwörungsthriller um ein Mädchen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Die Einbettung in den ohnehin schon spannungsgeladenen geschichtlichen Hintergrund ist ihm dabei wichtig, denn er spart nicht mit Hinweisen auf historische Fakten. Mitten hinein platziert er ein spannendes Rätsel um eine Parallelgesellschaft von Menschen, die sich ‚anders‘ entwickelt hat und nun ihr Existenzrecht einfordert.
Alter Siegertitel im neuen Gewand
Der Roman wurde erstmal 2009 als Siegertitel einer Ausschreibung des Magazins „Geisterspiegel“ vom Persimplex Verlag veröffentlicht. Zehn Jahre später versah der Wurdack Verlag „Die Welt am Abgrund“ mit einem eindrucksvoll stimmigen Coverbild und veröffentlichte es erneut. Gut so. Denn dieser Abenteuerroman überzeugt nicht nur mittels Spannung, Tempo und historischer Details, sondern vor allem durch einen überbordenden Ideenreichtum. In der ursprünglichen Fassung, die ich gelesen habe, war ein etwas holpriger Einstieg zu bemängeln. Die ersten Kapitel wirkten zusammenhanglos, es dauerte bis zur Hälfte des Romans, bis sich ein einheitlicher Erzählrahmen herausschälte. Doch vielleicht hat ein erneutes Lektorat hier Abhilfe geschaffen und die Lektüre der neuen Ausgabe lohnt umso mehr.
Auszüge zum Inhalt des Buchs von Verena Wolf, veröffentlicht auf phantastik-couch.de. Ein Großteil der Rezension ist Bestandteil eines Artikels über Steampunk-Literatur aus Deutschland im Magazin PHANTAST, Ausgabe 11
Eva Bergschneider
Steampunk
Wurdack Verlag
September 2019
296
Funtastik-Faktor: 78