Dunkle Ziffern – Diana Kinne, Fabienne Siegmund, Isa Theobald (Hrsg)

Verzweiflung, (Un)schuld und Hoffnung

Dunkle Ziffern © Edition Roter Drache

„Dunkle Ziffern“ ist eine Anthologie, die Geschichten um menschliche Schicksale erzählt, die hinter sogenannten Dunkelziffern verschwinden. Dazu gehören Missbrauchsopfer, aber auch jene, die an Krankheiten leiden oder in einer seelischen Krise stecken. Menschen, die unsere ach so perfekte Gesellschaft nicht sehen möchte. Die Herausgeberinnen (Diana Kinne, Fabienne Siegmund, Isa Theobald) und AutorInnen verzichten auf eine Entlohnung. Die Einnahmen aus dem Verkauf des Buchs gehen an „Dunkelziffer e.V.“. Der Verein bietet seit seiner Gründung 1993 den Betroffenen und ihren Vertrauenspersonen Hilfe und Beratung an und macht durch seine Öffentlichkeitsarbeit auf das Tabuthema Mißbrauch aufmerksam.

Trotzdem, dass das Thema dank der #meetoo Debatte mehr im Licht der Öffentlichkeit steht als früher, ist es für die Opfer immer noch schwer, darüber zu sprechen und sich helfen zu lassen. Sexueller Missbrauch, Gewalt und psychischer Missbrauch werden aus Scham und Schuldgefühlen häufig nicht angezeigt. Oder von den offiziellen Stellen nicht ernst genomen. Die Täter sind raffiniert und nutzen den Schock und die Hilflosigkeit ihrer Opfer aus. Auch Familie und Vertrauenspersonen wollen das Geschehene oft nicht glauben oder verrennen sich in Wut und Rachegefühle. Die AutorInnen dieser Anthologie erzählen Geschichten darüber. Mal in harten, realistischen Bildern, mal in fantastisch-verfremdeten. Sie verleihen durch ihre Figuren den Opfern eine Stimme.

„Belphyr stemmte sich gegen den verzehrenden Schmerz, gegen die Schuld, die mit hundert Mäulern an ihm fraß, ohne jemals satt zu werden. Er richtete sich auf. Rote Umnachtung ergriff Besitz von ihm. Dies war der Ort, wo es geendet hatte. Dies war der Ort, wo es beginnen würde.“ [S. 103, aus „Pasch“ – Fräulein Spiegel]

 

– Seelenspiegel – Diane Kinne
– Die Prinzessin mit den blauen Augen – Ann-Kathrin Karschnik
– Boot Hill-Hügel der Stiefel – David Gray
– Licht im Dunkeln – Silke Lindenberger
– Der Besuch – Sebastian Ehrhardt
– Der Prinz und sein Monster – Heike Schrapper
– Sieben Tage, sieben Tode – Fabienne Siegmund
– Rache – Hanka Jobke
– Pasch – Fräulein Spiegel
– Rot – Germaine Paulus
– Das Auge der Nacht – Stefanie Altmeyer
– Sehnsucht – Isa Theobald
– Zwischentöne – Lena Falkenhagen
– Sprachlos – Michelle Gyo
– BKA vs. King – Theresa Hannig
– Ungeliebt – Sonja Rüther
– Mord im Blumenwall – Christina Maria Schollerer
– Alt + entf. – Nina George
– Schweigen – Tom Daut
– Wände aus Glas – Bernhard Hennen
– Angeleckt – Luci van Org
– Messer – Anja Bagus
– Der letzte Eindruck – Christian von Aster

Die schmerzerfüllte Hölle

Geschichten wie „Schweigen“ und „Messer“ schockieren. Sie schildern die gewalttätige Seite dieses Verbrechens und lassen uns mitleiden. In „Schweigen“ von Tom Daut erleben wir, wie ein Mädchen Nacht für Nacht nach Einbruch der Dunkelheit von einem Monster mit Klauen heimgesucht wird. Wer kann ihr helfen? In „Messer“ von Anja Bagus erzählt eine Blumenverkäuferin. Über die Zeit, als der Freund ihrer Mutter sie vergewaltigte und an Freunde weiter reichte. Und über ihr Leben danach mit dem Messer in Griffweite. Leicht lesen lassen sich die Geschichten nicht. Denn sie vermitteln einen Hauch von dem unermesslichen Grauen, das die Opfer sexuellen Missbrauchs erfahren. Unter dem sie ihr Leben lang leiden, wenn sie keine Hilfe bekommen.

Über diejenigen, die sich wehren…

Die Rache ist in Geschichten wie den beiden folgenden das leitende Motiv, denn die Opfer wehren sich gegen die Täter. „Boot Hill – Hügel der Stiefel“ von David Gray spielt in einem Setting, das wir aus Wild-West Geschichten und Filmen kennen. Die Geschichte erzählt vom Schicksal der Carolin Ryan, einer selbstbewussten Dame mit einem Colt. Sie erschießt einen Vergewaltiger und wird gehängt. Zuvor jedoch lernt die Tochter des Richters die vermeintliche Mörderin kennen. Germaine Paulus‘ Geschichte „Rot“ erzählt von der geplanten Rache eines Gewaltopfers an dem Schläger. Wird ihn diese Tat von seiner Wut befreien? Mancher Racheakt mag Genugtuung und Selbstwertgefühl verschaffen. Doch hilft sie den Betroffenen dauerhaft, die seelische Last abzuwerfen?

….oder die mitleiden

Missbrauch trifft nicht nur die unmittelbar Betroffenen, sondern auch Angehörige und Freunde. Geschichten wie „Pasch“ und „Alt+entf“ verleihen jenen eine Stimme, die mitleiden.
In „Pasch“ von Fräulein Spiegel will ein Vater den Missbrauch an seinem Sohn vergelten. Die Story führt uns in die fantastische Gelichterstadt in das Spielhaus Narrengold. Der blinde Zauberer Belphyr folgt den Spuren seines Jungen Lîskith, um dessen Zuhälter zu bestrafen. Er findet eine Verkettung von Ursache und Schuld, die viel weiter reicht, als er ahnte.
„Alt+ entf“ von Nina George erzählt von dem Nerd Markus. Er entwickelt eine radikale Methode, um sein eigenes Unglück und den Missbrauch an Mette, die ihm den ersten Kuss gab, ungeschehen zu machen. Wer stellvertretend für ein Missbrauchsopfer Rachegedanken nachhängt, läuft Gefahr, die eigene Lebensfreude einzubüßen. In einem solchen Fall brauchen die Bezugspersonen Hilfe.

Das Licht am Ende des Tunnels

Die Botschaft der folgenden Geschichten ist die Hoffnung, dass es Wege gibt, den Alptraum zu überwinden. „Der Prinz und sein Monster“ ist ein Märchen von Heike Schrapper, das Mut macht. Der Prinz leidet unsäglich unter einem Monster auf seiner Schulter, das kein anderer sieht. Niemand glaubt ihm, bis auf die Köchin am Hof. Die Lösung des Problems ist überraschend und genial. „Ungeliebt“ von Sonja Rüther stellt den Nachkommen einer Vergewaltigung vor. Der erzählt, wie sich das Missbrauchsopfer Maike von etwas befreit, das ihr genauso viel Leid beschert hat, wie die Tat. Die Missbrauchsopfer dieser Stories leiden eine lange Zeit an den Folgen des Verbrechens. Mithilfe empathischer Familienmitglieder, Freunde, Partner oder Therapeuten kann es jedoch gelingen, sich der Erinnerung zu stellen, und in das Leben zurückzufinden.

Diese Anthologie hilft den Lesern zu verstehen und den Helfern zu helfen

Ich las „Dunkle Ziffern“ in der psychosomatischen Rehabilitation, also einer Umgebung, die wie ein Resonanzboden für die Themen Missbrauch und Gewalt wirkt. In so einem sensibilisierten Umfeld wird das Bewusstsein dafür geschärft, wie weit das Spektrum an Missbrauchsszenarien ist und wie viele unterschiedliche Opfer es gibt. Die Anthologie „Dunkle Ziffern“ beschreibt diese unterschiedlichen Seiten und Aspekte. Das Trauma einer Gewalterfahrung wie in „Sprachlos“. Die Vergewaltigung, wie in „Schweigen“, den versteckten Missbrauch, wie in „Seelenspiegel“. Den nicht beabsichtigten Missbrauch, wie in „BKA vs. King“ und den Missbrauch im beruflichen Abhängigkeitsverhältnis wie in „Angeleckt“. Sogar solchen, wo wir Verständnis für den Täter aufbringen wie in „Der letzte Eindruck“. Die Protagonisten zeigen uns die Bandbreite der seelischen Zustände nach einer solchen Erfahrung: Verzweiflung, Depression, Wut, aber auch Kampfgeist, Aufbruchsstimmung und wiedergewonnenes Selbstwertgefühl.

Missbrauch und Gewalt fühlen sich im Verborgenen wohl, dort sind sie mächtig. Darüber lesen, schreiben und reden zerrt diese Verbrechen in das entlarvende Licht. Dies und die Unterstützung des Vereins Dunkelziffer e.V., ist das Ziel dieser Anthologie. Darüber hinaus bietet „Dunkle Ziffern“ zwar keine unterhaltsam zu nennende, aber trotz des harten Themas eine interessante Lektüre. Die Geschichten gehen unter die Haut und erwecken sogar Mut bei allen, die nicht länger die Augen verschließen wollen. Den Mut, der Angst und dem Schrecken zu trotzen. Die Courage, eine Missbrauchssituation zu erkennen und sich dem Täter entgegenzustellen. Die Entschlossenheit zur Hilfe und uneingeschränkter Solidarität mit den Opfern.

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Eva Bergschneider

Dunkle Ziffern
Diana Kinne, Fabienne Siegmund, Isa Theobald (Hrsg)
Phantastik Plus
Edition Roter Drache
März 2019
272

Funtastik-Faktor: 88

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