Eine Jagd und Flucht über Weltengrenzen
Der Weltenrat wacht über das Reisen zwischen den Welten. Auf Weltenschiffen und mit Hilfe eines Weltensteins ist es den Wanderern möglich, durch Risse zwischen verschiedenen Welten zu reisen. Der Weltenrat errichtete in diesen Welten eine Infrastruktur. Jede:r Wanderer:in findet dort eine Station, die im Bedarfsfall behilflich ist. Ebenso reguliert dieser Rat die Ausbildung der Wanderer:innen und übt eine Polizeifunktion aus. Und mit einem dieser Polizisten, dem Gardisten Niano Colovar beginnt die Geschichte „Flucht durch den Weltenriss“.
Mit einem ihm zugeteilten Wanderer ist Niano auf der Jagd nach einer Wanderin, die ihren Mentor getötet hat. Beim Übertritt in eine Sumpfwelt verunglückt sein Schiff. Der Wanderer stirbt und zunächst ist Niano gestrandet. Doch über einen sogenannten schrägen Riss, der unzugänglich sein sollte, gelangt er in die Welt Tospa. Die Befragung von Zeugen ergibt, dass seine Beute, die Wanderin Madrey, vor ihm dort war. Nach und nach ermittelt er die Details ihrer Geschichte, die sein Weltbild auf den Kopf stellt.
Nach der Akademie ist Madrey froh, dass der Mentor Leone sie aufnimmt. Zwar ist der launisch und erwartet, dass sie für ihn enge und ausgeschnittene Kleider trägt. Doch immerhin ist er gebildet und gutaussehend. Madrey verguckt sich in ihren Mentor und der scheint ihre Gefühle zu erwidern. Außerdem lässt er sie an einem spannenden Experiment teilhaben: die Kontrolle eines schrägen Risses. Leones Launen schlagen in Gewalttätigkeit um, doch durch Versprechungen gelingt es ihm, Madrey emotional an sich zu binden. Als der Wanderer Oren, der noch radikalere Ziele verfolgt als Leone, dazukommt, eskaliert die Situation.
Zwei Erzählungen interessant arrangiert
„Flucht durch den Weltenriss“ erzählt zwei Handlungsstränge, meistens in abwechselnder Reihenfolge. Aus der personalen Erzählperspektive Nianos erleben wir die Gegenwartshandlung, die im Wesentlichen aus seiner Jagd auf die vermeintliche Mörderin besteht. In der Ich-Perspektive erzählt Madrey, die Zielperson des Gardisten, aus ihrer Vergangenheit, von ihrer Zeit nach der Akademie, als sie bei ihrem Mentor Leone lebte.
Während wir Niano auf einer Fantasy typischen Abenteuer-Queste begleiten, dominiert in Madreys Handlung ihre Beziehung zu Leone. Es ist eine emotionale Achterbahn der Gefühle und Ängste, die sie umtreibt. Wird er mich etwas lehren, mich lieben oder schlagen? Wir verfolgen die typische Abhängigkeitsbeziehung eines jungen und gutgläubigen Mädchens zu einem gewalttätigen Mann, zu dem sie aufschaut und der für ihr Leben verantwortlich ist.
Niano dagegen stellt sich mutig den Gefahren und Fährnissen, die sich ihm in den Weg stellen. Stück für Stück folgt er den Spuren von Madreys Martyrium und beginnt, die Rechtmäßigkeit seines Auftrags zu hinterfragen.
Diese Erzählweise ist clever und innovativ, denn sie bringt viel Dynamik in die Geschichte. Die Kapitel enden oft an entscheidenden Wendepunkten, jedoch verzichtet Veronika Bicker darauf, harte Cliffhänger einzubauen. Bereits Nianos Reise und Madreys Alltag bringen Dramatik in die Handlung. Besonders spannend ist jedoch, wie sich die beiden Erzählstränge aufeinander zu entwickeln. Leider ist der Autorin Aufbau und Tempo der Story nicht so gut gelungen, denn Madreys Leiden zieht sich viel zu lang. Dafür hätten die finalen Ereignisse um die Drachen und drohenden Gefahren um das Gefüge der Welten ausführlicher ausgearbeitet werden dürfen.
Die Charaktere bieten nicht gerade Identifikationspotenzial
,sondern bestechen vielmehr als Persönlichkeiten ihrer Zeit und Welt.
Niano lernen wir als loyalen Soldaten des Weltenrats kennen. Er handelt und kommuniziert effizient und seiner Befehle gemäß. Gegenüber Zivilisten gibt er sich militärisch korrekt und befehlsgewohnt. Aus der Ruhe bringen ihn weder unvorhergesehene Ereignisse noch Gefahren. Sondern eine unzulängliche Organisation und Infrastruktur. Niano ist allerdings gleichzeitig ein cleverer Detektiv und lernfähiger Analyst. Und ein Charakter mit enormen Entwicklungspotenzial, das Veronika Bicker voll ausschöpft. Aufgrund seines stoischen Gehorsams ist er zu Beginn nicht gerade ein Sympathieträger. Doch das ändert sich, als er mehr über die Hintergründe zum Tod Leones erfährt und seine Strategie ändert.
Madrey wirkt besonders zu Anfang wie ein naives Mädchen, das sich immer wieder körperlich und seelisch verletzen und an die Grenzen ihrer Moralvorstellungen bringen lässt. Über zu viele Kapitel stellt sich diese Situation immer gleich dar: Leone missbraucht Madrey für seine Experimente, für seine sexuellen Bedürfnisse und für seinen Hang zu unkontrollierter Gewalt. Dazwischen Beteuerungen, dass er aufhöre sie zu schlagen, dass er sie liebe, dass alles gut wird. Anfangs leidet man mit ihr. Doch schließlich möchte man sie nur noch schütteln und ihr zurufen, dass sie so einem Mistkerl nicht glauben kann und sie Hilfe braucht. Madreys Erfahrungen empfand ich als unangenehm zu lesen, weil ich ihren langanhaltenden Glauben daran, dass Leone sie liebt, nicht nachvollziehen konnte. Ihre Entwicklung zu einer reflektierenden, selbstbewussten Frau kommt leider zu kurz.
Sprachlich unterscheiden sich die beiden Erzählstränge. Während Niano die Ereignisse seiner Reise präzise und anschaulich beschreibt, erfahren wir von Madrey, was sie denkt und fühlt. Genau das ist typisch für eine Ich-Erzählung. Allerdings ist ihre Sprache einfacher gehalten als die Nianos. Madrey bildet kürzere und oft ähnlich strukturierte Sätze. Ihre Erzählweise wirkt oft wie die eines Teenagers, nicht wie die einer jungen Erwachsenen. Niano erzählt dagegen reifer und variantenreicher, wodurch sich seine Handlung flüssiger lesen lässt.
Fazit
„Flucht durch den Weltenriss“ ist ein ungewöhnlicher Fantasy-Roman, der aus der Science-Fiction das Weltentor – Motiv elegant nutzt. Zwei parallellaufende Handlungen und Erzählperspektiven prägen den Roman. Nianos Suche nach einer vermeintlichen Mörderin und den Hintergründen des Verbrechens ist spannend beschrieben. Tiefe entwickelt der Roman allerdings durch die Entwicklung des Protagonisten und geschickte Verflechtung beider Handlungsstränge. Madreys Geschichte lässt dagegen zu lange eine interessante Entwicklung vermissen. Die letzten Kapitel bieten viele interessante Ansätze rund um das Gefüge der Welten und den Weltenrat, aus diesen hätte die Autorin mehr herausholen können. Trotzdem führt Veronika Bicker die Geschichte zu einem runden und überzeugenden Ende mit einem Hintertürchen zu einer Fortsetzung.
Eva Bergschneider
Fantasy
Wurdack Verlag
April 2021
262
Ernst Wurdack
70