Die Welt über der Welt
Staubner ist ein Pechvogel. Er flieht vor Söldnerfürst Fausto, wird dabei mit einem Meuchelmörder verwechselt und ins Reich des toten Königs entführt. Es liegt über den Wolken und ist nur durch einen schmalen Gang erreichbar, trotzdem leben dort zigtausend Menschen. Regiert wird das streng in Kasten eingeteilte Staatswesen von der Priesterschaft, angeführt vom Beleuchteten. Der liebt Novizinnen und dass es den Bewohnern in seinem Reich immer schlechter geht, interessiert ihn nicht.
Die verkrüppelte Oberste namens Segen schmiedet Intrigen zum Nutzen des Volkes. Ihr Adlatus Andacht, der die herrschenden Regeln und Rituale als das Höchste ansieht, ist entsetzt, dass sie Staubner ins ärmste Viertel schickt, um einen angesehenen Wasserernter umzubringen. Der Beauftragte kann keiner Fliege etwas zuleide tun und will den zu Ermordenden nur warnen. Genau in dem Moment stürzt die Haushälfte mit dem Wasserernter in die Tiefe. In der Wolke dahinter schwebt ein riesiger Schatten. Fassungslos erscheint eine junge Frau in der Tür und bezichtigt Staubner des Mordes.
Wer die Macht hat, hat recht
Mit dieser Welt über den Wolken ist dem Autor Carsten Steenbergen ein Glanzstück gelungen. Allein das Entwickeln der Sozialstruktur und der architektonischen Besonderheiten zeugen von jeder Menge Phantasie und erfreuen den Leser, der abseits der klassischen Fantasysettings wandeln möchte. Welch phänomenale Welt! Alles was die Priester predigen und die Bewohner glauben, basiert auf einer ungeheuerlichen Lüge. Trotzdem fehlt ein wenig die Vorgeschichte. Warum haben sich Menschen dort oben angesiedelt, wo kommen die Bestien her? Warum wurde nach dem letzten König kein neuer gekrönt. Wie werden die ganzen Lebensmittel in dem Reich aus Stein und Wolken angebaut, damit es für alle reicht? So bleiben dem Leser Geheimnisse, die er selbst lösen muss.
„Man schlittert irgendwie durchs Leben.“ [S. 285]
Drei Antihelden müssen zu Helden werden. Das Schicksal hat sie zusammengewürfelt. Nach und nach decken sie das Lügengerüst auf, auf dem das Reich des toten Königs basiert. Der Adlatus Andacht hat die schwersten intellektuellen Schläge zu verkraften. Beharrlich hält er an seinem Ziel fest, den Beleuchteten retten zu wollen. Als er erkennt, welcher Propaganda er aufgesessen ist, ändert er sein Verhalten, übernimmt wahre Verantwortung und versucht zu retten, was zu retten ist. Diese Figur ist ein gutes Gleichnis für die Nazipropaganda. Sie macht ehrlichen Häuten ein X für ein U vor. Mögen sie alle wach werden!
Staubner – Kusanterabschaum mit einer Schattenhaut – lässt sich von den Umständen hin- und herwerfen. Bis es ihm reicht und er sich für die Menschen des fremden Reiches einsetzt. Tau, die Wasserernterin, glaubt, was sie glauben will. Steenbergen gibt seinen Haupt- und Nebenfiguren nachvollziehbare Motivationen, mehr oder weniger ehrenhafte Absichten, auf jeden Fall lebendige Gesichter und Seelen. Deshalb fiebert und leidet der Leser mit den Figuren mit. Die Dialoge sind klar und knackig und oftmals mit schwarzem Humor und kleinen Spitzen durchzogen.
Der Autor schreibt flüssig, bildhaft und lässt den Leser in die Welt des ewigen Himmels eintauchen. Oder durch die Gänge, Tunnel und versteckten Kavernen stolpern – mit jener seltsamen Melodie im Ohr. Die Kapitel hält er kurz, das verleitet dazu, schnell ein weiteres zu lesen.
Das Cover zeichnete Holger Much im Retrostil, der an frühe SciFi-Titelillustrationen erinnert. Kunstvoll fing er den Elfenbeinturm des Tempels ein. Da er selbst die geflügelten Bestien ästhetisch gezeichnet hat, wirken sie weniger gefährlich, als sie im Roman sind.
Alles in allem ein intrigenreicher, lebendiger, spannender Fantasyroman mit liebenswerten Charakteren in einer phänomenalen Welt, von dem sich eine Fortsetzung anbietet.
Amandara M. Schulzke
Fantasy
Edition Roter Drache
Oktober 2019
449
Funtastik-Faktor: 78