Moderner Steampunk mit einer Hommage an historische Klassiker der Literatur
Die geheimnisvolle Seuche Morbus Konstantin grassiert im London des Jahres 1864. Im günstigen Fall bewirkt sie eine Geschlechtsumwandlung, die meisten der Infizierten sterben jedoch. In der Nacht leuchten seltsame Lichter am Himmel und in der Themse sind Monster gesichtet worden. Der Stadtteil Whitechapel ist unbewohnbar, denn eine Explosion hat sich dort ereignet und ewige Feuer hinterlassen. Die Wissenschaft macht enorme Fortschritte, doch sie fordert auch Opfer. Die Beleuchtung Londons mit alchimistischen Lampen geht auf Kosten der Gesundheit der Arbeiter, die diese herstellen. Ein komfortables Leben ist den Adeligen vorbehalten, doch nicht alle Bürger des gehobenen Standes geben sich damit zufrieden.
Die Passionen des Lord Pembroke „Pimm“ Halliday sind alkoholische Getränke und Kriminologie. Meistens hilft er der Polizei aus, doch zuletzt engagierte ihn der berüchtigte Verbrecher Abel Value. Dessen Geschäft ist die Prostitution, er betreibt legale Häuser mit Roboter-Huren, schickt allerdings auch weiterhin Damen aus Fleisch und Blut auf die Straße. Was verboten ist seitdem man weiß, dass Morbus Konstantin sexuell übertragen wird. Nun tötet jemand seine leichten Mädchen und legt sie vor den Freudenhäusern mit mechanischen Huren ab. Pimm muss herausfinden, wer diese Morde begeht, denn Value weiß um das Geheimnis seiner nicht ganz standesgemäßen Ehe. Die Begutachtung der Leichen führt Pimm zu dem Wissenschaftler Adam, einem übergroßen Mann, der stets eine Maske trägt. Adam verspricht, dass er einer frischen Leiche eine Zeugenaussage entlocken kann und so legt sich der Amateurdetektiv am Tatort auf die Lauer.
Eleanor Skyler, alias E. Skye ist Zeitungsreporterin mit dem Ehrgeiz, zwielichtige Wahrheiten ans Licht zu zerren. Als Mann verkleidet schleicht sie sich in eines von Values legalen Bordellen, muss aber von dort fliehen. So stolpert sie mitten in Pimms Ermittlungen. Die Verschwörung, die beide aufdecken, übersteigt jede noch so ausgefallene Journalistenfantasie und führt tief in die Abgründe eines Wahnsinns, zu dem nur Genies fähig sind.
Wer Steampunk hört, denkt häufig zuerst an typische Steampunk- Accessoires wie Schweißerbrille oder mechanische Taschenuhr. Manche glauben, es handele sich um eine Subkultur, die das viktorianische Zeitalter verherrliche. In der Steampunk-Literatur findet man tatsächlich eine Fülle von technischen Kuriositäten, mit Dampf, Elektrik oder Alchemie betrieben. Verherrlichung der Viktorianischen Ära dagegen selten, sondern eher Welten, die an Dystopien erinnern. Was kein Zufall ist, denn Steampunk entstand als eine parallele Strömung zum Cyberpunk. So ist auch die Welt in dem Roman „Morbus Konstantin“ von T. Aaron Payton nicht unbedingt eine, in der man gern leben möchte.
„Morbus Konstantin“ ist mehr als eine Alternativwelt-Story im viktorianischen Gewand. Vielmehr spielt der Autor T.A. Payton (Tim Pratt) mit Ideen der Phantastik-Literaten des 19. und 20. Jahrhunderts und kreiert daraus eine neue spektakuläre Story. Welche Kollegen Payton inspiriert haben, erklärt der Autor selbst in seiner Danksagung. Augenfällig ist als Vorbild für den Protagonisten Pimm die Figur des Lord Peter Wimsey (bei Wikipedia), Hobbykriminologe aus adeligem Haus, der in Dorothy L. Sayers (bei Wikipedia) berühmter Serie elf Verbrechen löst. Seine Trunksucht mag moderneren Kollegen des Noir-Fachs nachempfunden sein. Jedenfalls überzeugt das Ergebnis, der Amateurdetektiv ist ein kluger Kopf und liebenswerter Charakter mit Ecken und Kanten.
In dieser Hinsicht vielleicht etwas zu glatt, aber äußerst sympathisch kommt die taffe Reporterin Ellie Skyler daher, die sich selbstbewusst und trickreich in einer Welt durchsetzt, die den Frauen die Rolle der Hausfrau oder Gesellschafterin zuweist. Noch eindrucksvoller und mit eigenwilligem Esprit gelingt es der verwandelten Ehefrau Lords Pembrokes in der nach Geschlechtern getrennten Welt ihr Ding zu machen. Freddy ist eine der faszinierendsten Figuren in einem bunten Ensemble.
Des Weiteren wäre Adam zu nennen, dem Mary Shellys (bei Wikipedia) berühmtes Geschöpf Pate stand. Oder Sir Oswald Bertram, der seinen Namen von dem australischen Insektenforscher Oswald Bertram Lower erhielt, dessen wissenschaftliche Interessen jedoch weit über das Fachgebiet seines Vorbilds hinausgehen. In dem Roman stecken allerlei Anspielungen auf historische Klassiker, aber auch auf zeitlose Fragen, wie sie der Gesellschafts- oder Science-Fiction Roman stellt. Zum Beispiel die nach Verantwortung und Grenzen des wissenschaftlichen Fortschritts. Wen und was betrachtet man als schützenswertes Individuum? Was rechtfertigt die Sehnsucht nach ewigem Leben? Und nicht zuletzt das Thema Gleichberechtigung. Hier kommt der beschriebenen Krankheit eine Schlüsselrolle zu, da sie die gegebene Rollenverteilung von Mann und Frau auf ungewöhnliche Weise auf den Kopf stellt. Dies und mehr stellt der Autor in prägnanten, heiteren oder düsteren, manchmal absurd anmutenden Bildern dar, die eine spannende Kriminalgeschichte mit überraschenden Wendungen umrahmen. Payton konfrontiert seine Helden mit brillanter Bosheit und wahnwitzigen Weltherrschaftsambitionen. Dabei wirken Schurken und Scheusale nicht ausschließlich widerwärtig, sondern sind entweder Opfer der Umstände geworden oder intelligent und größenwahnsinnig.
Nicht ganz gelungen ist dem Autor der Spannungsaufbau, der in der Mitte des Romans deutliche Hänger aufweist. Hier überlagert manch allzu gedehnter Dialog die drohende Gefahr und einiges fügt sich wie zufällig zum Guten. Nach etlichen futuristischen Spielereien bis hin zur Nekromantie greift der Autor zum Schluss noch in die Cthulhu’sche Horrorkiste, was eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Die Story hätte genügend passendere Ansätze für ein finales Spektakel gehabt.
Fazit
Insgesamt bietet „Morbus Konstantin“ feinste Steampunk-Unterhaltung mit allerlei verrückten Ideen abseits des Genreüblichen und einer originellen, im besten Sinne englischen Kriminalgeschichte. Besonders bei der Wahl und Ausgestaltung seiner Charaktere hat der T. A. Payton viel Sinn für Humor und Originalität bewiesen.
Diese Rezension erschien zuerst bei Literatopia.de
Steampunk
Feder & Schwert
August 2013
400
Funtastik-Faktor: 80