Lukrative Angebote, sprechende Schweine und sterbende Planeten
In seinem neuesten Roman reist Ivan Ertlov im Vergleich zu seinen anderen Werken beträchtlich in die Zukunft. Und landet in unserem Sonnensystem zur Mitte des 22. Jahrhunderts. Die Leser erwartet keine Alternate History, sondern eine Extrapolation unserer heutigen globalisierten Welt. Prophezeiung statt Spekulation lautet das Motto, und diese fallen alles andere als rosig aus.
Die Menschheit hat sich von einem ersten, verheerenden und einem weiteren interplanetaren Bürgerkrieg weitestgehend erholt. Mond und Mars, aber auch Saturn- und Jupitermonde sind zumindest teilweise bewohnt, der Kuiper Gürtel wird erschlossen. Konzerne haben das Sonnensystem unter sich aufgeteilt, Regierungen sind nicht einmal mehr lästige Hindernisse. Und auch die Macht der UNO und der ihr angeschlossenen Interplanetaren Handelskommission schwindet.
Fortschritt an allen Fronten. Bis die Venus, erstaunlicherweise erfolgreich terrageformt und von einem quasi-kommunistischen Forscherkollektiv bewohnt, in Schwierigkeiten gerät. Ihnen geht die Luft aus, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Sauerstoffgehalt sinkt, der Sauerstoffverbrauch aller Säugetiere beginnt aus unerfindlichen Gründen zu wachsen. Der mächtige ExoCorp Konzern könnte Soforthilfe leisten, aber das misstrauische Kollektiv der Venus verlangt einen neutralen Unterhändler.
Nachdem alle anderen Kandidaten nicht verfügbar sind, geht der Job an den Letztgereihten der Shortlist: John Harris. Ein chronisch bankrotter Veteran des letzten, „absolut überflüssigen“ (wie er es selbst ausdrückt) Krieges, Besitzer des antiken, wertvollen Kampfschiffes „Avatar“ und der launige Ich-Erzähler der gesamten Geschichte. Diese entwickelt sich rasch zu einem Thriller mit interplanetarer Schnitzeljagd, Raumschlachten und reichlich skurrilen Begegnungen.
Aller Anfang ist komplex
Wieder legt der Autor die Hürden an den Eingang der Story. War es zu Beginn des „Onur Zyklus“ ein Kammerspiel aus Wissenschaftlern und Militärs, so setzt Ertlov in „Mutation“ auf einen leicht ausschweifenden Prolog, dem bald darauf eine doppelte Rückblende folgt. All das ist flüssig zu lesen, großteils spannend, aber nicht unbedingt notwendig. Und lässt keineswegs erahnen, mit welcher Eleganz und sprachlichen Gewandtheit es später zur Sache gehen wird.
Denn sobald dieser Einstieg überwunden ist, spielt „Mutation“ seine Stärken aus: starke Dialoge und wundervolles Worldbuilding. Die facettenreichen Charaktere bekamen sogar alle ihre eigenen linguistischen Ticks und Sprachmelodien spendiert. Eine Story, die unaufhaltsam beschleunigt, spannende, aber stets logische Haken schlägt und sich schlussendlich in einem bombastischen Finale entlädt, das in seiner Dramaturgie irgendwo zwischen den besten Momenten von Battlestar Galactica und den Finalschlachten von Herr der Ringe liegt. Und das alles in einer sprachlichen Leichtfüßigkeit, die ihresgleichen sucht. Es gibt kaum Bücher, die man schneller lesen kann, ohne sie zu überfliegen.
Humor und Gesellschaftskritik – eine heilige Allianz
Der teilweise surreale Humor raubt interessanterweise keineswegs die Glaubwürdigkeit. Sogar das vielerorts erwähnte sprechende Schwein ist eine logische Figur seiner Welt. Diese ist jedoch teilweise so düster, menschenverachtend und zynisch, dass Humor dringend gebraucht wird.
John, der Protagonist, benötigt ihn, um mit der Ungerechtigkeit in seiner Welt fertig zu werden. Der Leser braucht ihn, um die dunkelsten Ecken und Winkel der Dystopie, in die gnadenlos hinein geleuchtet wird, besser zu bewältigen.
Statements wie…
„Genetisch maßgeschneiderte Lebewesen, geliefert vom absolut billigsten Anbieter, hergestellt vom Bodensatz der Lohnsklavenwelt, von Menschen, die nur mit Endorphin Kathetern und Elektroschockhalsbänden vom Suizid abgehalten wurden – was sollte da schon schief gehen?“
…wären ohne einen nachfolgenden Satz wie…
„Ihr könntet meinen Großonkel Rupert fragen – wenn er noch leben würde. Der haifischzahnbewaffnete, mutierte „Kuschelelch“, der ihn, Großtante Lilly und beinahe auch Onkel Simon gefressen hatte, wog am Schluss knapp zwanzig Tonnen, als ihn die Royal Navy mit dreizehn Drohnen-Raketentreffern außerhalb von Canterbury endlich zu Fall bringen konnte.“
auf Dauer schwer zu ertragen. Ein Schmunzeln, ein Kichern oder gar ein herzhaftes Auflachen in einer bierernsten Situation – das ist nicht unbedingt neu. Die „Wachen“ Romane lassen grüßen. Die humoristischen Elemente brauchen sich jedoch bezüglich Hintersinn vor keinem Terry Pratchett, bezüglich Kreativität vor keinem Douglas Adams zu verstecken. Allerdings sind sie weniger dicht gestreut.
Ganz großes Kino ist die Storyentwicklung. In deren Verlauf wird der Leser immer wieder mit neuen Fraktionen, neuen Charakteren und neuen Allianzen konfrontiert, die sich aber immer logisch und mit einem gewissen „Aha!“ Effekt in das Gesamtbild einfügen. Egal ob Harris gezwungen ist, gegen alte Freunde zu kämpfen oder mit diesen ein Bier aufmacht. Man wird nicht nur in sein Leben, sondern auch in jenes der Nebendarsteller eingeführt. Selbst die Antagonisten fallen – mit einigen wenigen Ausnahmen – nicht in die Kategorie „platter Bösewicht“.
Lesespaß mit Hindernissen
Bei allem Lob, perfekt ist „Mutation“ keineswegs. Gewisse Eigenheiten der österreichischen Sprache wie „solang“ statt „solange“, sowie offensichtliche und weniger offensichtliche Austriazismen können mit ein wenig Böswilligkeit auch als Fehler ausgelegt werden. Sie wären einem deutschen Verlags-Korrektorat ebenso wie die tatsächlichen Tippfehler nicht durchgeschlüpft. Auch einige der kleineren Anspielungen und Scherze am Rande sind wahrscheinlich nur Österreichern und Bayern ein Begriff. Die Rückblende am Anfang hätte man durchaus kürzen, den Prolog vielleicht weglassen können. Auch gibt es eine Szene, in der der Protagonist eine Minderjährige eben nicht sexualisieren will, der Leser aber vielleicht nicht vermeiden kann, in diese Richtung zu denken. Das ist sicher nicht die Absicht des Autors oder des Buches, es sorgt aber für Unbehagen.
Fazit
Bei aller Detailkritik ist „Mutation- Alte Freunde und profitable Kriege“ dennoch ein Meilenstein, eine der spannendsten und auch am besten ausgearbeiteten Ich-Erzählungen der aktuellen Science-Fiction. Vor allem ist es in seiner Einzigartigkeit ein starkes Plädoyer für die Vielfalt der Self-Publisher.
Denn es ist kaum vorstellbar, dass dieses Buch ein Verlagslektorat passiert hätte, ohne kreative Federn zu lassen und kantige Eigenheiten einzubüßen. Das mag aus wirtschaftlicher Sicht, unter dem Aspekt der Risikovermeidung, absolut verständlich und nachvollziehbar sein, keine Frage. Aber genau das ist letztendlich der Grund, warum deutsche Publikumsverlage wohl kaum den nächsten Dan Simmons, James S. A. Corey oder Douglas Adams entdecken werden – und wirklich außergewöhnliche Titel wie „Mutation“ im Eigenverlag erscheinen.
Nachdem eine Fortsetzung auf der Facebook Autorenseite bereits angekündigt ist, darf man gespannt sein, ob das Niveau gehalten werden kann.
DANKE an Gastrezensentin Tamara Yùshān für die tolle Besprechung!
Avatar-Reihe, Band 1
Science-Fiction
Amazon Media
April 2019
347
Funtastik-Faktor: 89
Hallo liebe Eva,
hey ..was für ein Roman…Hilfe irgendwie ziemlich schwarzer Humor oder?
Kleine Frage am Rande…was ist …Funtastik-Faktor: 89….?
LG..Karin..
Hallo Karin, anscheinend rabenschwarzer Humor. 😀 Auch deswegen finde ich Tamaras Schlussfolgerung, dass so ein Roman in der deutschen Verlagslandschaft eher schwer hätte, absolut überzeugend.
Hi Karin,
meine Meinung: Es ist eine schwarze Komödie im Science-Fiction-Knusperteig.
Und, das kommt in dieser ansonsten ziemlich gut geschriebenen Rezension etwas zu kurz – der Humor ist nicht immer tiefschwarz.
Es gibt auch richtig nette Slapstick Momente.
Aber diese zynischen, rabenschwarzen Beschreibungen, Anmerkungen und Seitenhiebe kommen vom Protagonisten, teilweise auch direkt an die Leser gewandt.
Immer dann, wenn er daran verzweifeln könnte, wie ungerecht die Welt ist, in der er lebt. Sein launiger Humor , auch wenn er über seine Invalidität oder die Schrecken des Krieges redet, helfen ihm, nicht wahnsinnig zu werden.
Dabei ist diese dystopische Zukunft eine nur ganz leicht übertriebene Weiterführung der heutigen Gegenwart.
Liebe Karin,
Der Funtastik Faktor ist eine Wertungsskala, so wie das Sternesystem – mit 0 als theoretisch schlechtestem und 100 als theoretisch bestem Ergebnis.
Die 89 Punkte wären umgerechnet 4.5 von 5 Sternen.
Und ja, es ist viel schwarzer Humor dabei, aber der wird gebraucht. Es ist aber gleichzeitig auch eine wunderbare Geschichte um Moral, Freundschaft – und letztendlich auch Liebe. Ich denke, es ist ein großartiges Buch für jeden, der auch nur irgendwie etwas mit Science-Fiction anfangen kann.
Eine wundervolle Rezension!
Wobei ich 89 von 100 – falls das so zu verstehen ist! – noch eher tief gegriffen finde. Mir fällt ad hoc kein Buch ein, welches mich in den letzten Jahren mehr begeistern konnte.
Und ich hatte als Schweizer mit den Austriazismen überhaupt keine Probleme, im Gegenteil.
Aber richtig schön auf den Punkt gebracht!
Vielen lieben Dank!
Zur Wertung – 90+ wäre für mich ein Buch, das auch absolut Genre-fremde mit Hochgenuss lesen können. Da ist Mutation knapp dran, aber so ganz überzeugt bin ich nicht davon.
Hallo und guten Tag ..Tamara Yùshān und -eidgenosse-,
dann herzlichen Dank für die aufklärenden und informative Wortmeldung von Euch Zweien .
Wieder was gelernt.
LG..Karin..