Die Töchter von Ilian – Jenny-Mai Nuyen

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert

Die Töchter von Ilian © Fischer Tor

Die Zwergin Walgreta verfolgt ehrgeizig ihr Ziel: Sie möchte um jeden Preis eine Weise Frau werden. Die Wyka sind magiekundig und wahren alte Mysterien. Sieben Lehrzeiten hat sie durchlaufen, doch auch die letzte Lehrmeisterin am Ulmenhain ernennt sie nicht zu ihrer Nachfolgerin. Enttäuscht, frustriert und beschämt kehrt Walgreta in ihre Heimat, die Zwergenstadt Horuns Bauch, zurück. Beim Erntefest wird Fayanú, ein wandernder Erzähler aus dem Volk der Elfen, festgenommen und brutal bestraft. Walgreta pflegt ihn und erfährt seine traurige Geschichte. Sein Volk hat ihn auf die Suche nach magischen Artefakten geschickt, denn seine Heimat Ilian soll erneut die Macht über Zwerge, Menschen und Elfen erlangen.

Ein Becher, um die Vergangenheit zu bewahren.
Eine Flöte, um mit Tieren zu sprechen.
Ein Spiegel, um sich selbst zu erkennen.
Eine Sternenscheibe, um die Zukunft zu sehen.

Diese Artefakte entwickeln Magie, wenn sie jemand in Liebe verschenkt.

Als Walgreta zur Königin von Horuns Bauch ernannt wird, verschenkt sie das kupferne Kleid mit den Resten des Spiegels an ihren Geliebten Fayanú und erhält von ihm den Blickenden Becher. Beide wollen die restlichen Artefakte finden und sie den Wyka überlassen, damit sie mit ihnen gerecht herrschen. Doch das Schicksal hat andere Pläne mit der Macht. Und jenen, die sie ausüben.

„Was fändet ihr schlimmer: Wenn die Zukunft bereits festgelegt wäre, oder wenn es von unseren Entscheidungen und Taten abhinge, was mit uns geschieht?“
Walgreta legte den Kopf schief. Sie dachte an ihr eigenes Leben, ihre zerstörte Hoffnung eine Wyka zu werden. […]
„Natürlich will man frei sein, Herrin über Sieg und Scheitern.“ sagte sie. „Aber wenn man dann wirklich scheitert…“
„…dann will man, dass es Schicksal war“ beendete Fayanú plötzlich zusammen mit ihr den Satz und sie grinsten beide. [S. 128]

Ein Spiegel der Instrumente der Macht …

Das lindgrüne Coverbild mit der verhüllten Gestalt und einer schwarz-weißen Gans, die schwungvolle, mit Blättern verzierte Coverschrift und der Klappentext – all das suggeriert einen epischen High-Fantasy Roman nach klassischem Vorbild. Einerseits trifft das zu, denn die klassischen Völker der Zwerge, Elfen und Menschen ähneln denen von Bernhard Hennen oder Tad Williams. Andererseits überhaupt nicht. Ambivalenzen prägen diesen Roman, der eine Geschichte erzählt, die einem Polit-Drama ähneln würde, spielte sie in unserer Welt.

In den magischen Artefakten lassen sich moderne Instrumente der Macht wiedererkennen: Die industrielle Ausbeutung der Natur, die Medien, Social Media und das Internet bis hin zur künstlichen Intelligenz. Im High Fantasy Setting von „Die Töchter von Ilian“ entsprechen sie Artefakten, die in die Vergangenheit oder in die Zukunft schauen, mit denen man Tiere manipuliert, oder die dem Gegner sein verzerrtes Abbild entgegenhalten.

Es herrschen die Zwerge unter einer Königin mithilfe eines mächtigsten Stamms der Menschen. Die Waldelfen leben in einem versteckten Areal, durch Lindwürmer abgeschirmt vom Rest der Welt. Aus einer mitreißenden Liebesgeschichte entwickelt sich die Idee, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Kein Volk soll mächtiger als das andere sein, eine Weise Frau aus jedem Volk soll die Welt im Gleichgewicht halten. Als Zwergin und Elfe und zwei der magischen Artefakte zusammenkommen, scheint dieses Ziel in greifbare Nähe zu rücken. Doch das Erwachen der Machtinstrumente lockt viele hervor, die von der Macht kosten wollen. Und mit ihnen Verrat, Täuschung, Rache und Intrige. Jeder, der die Artefakte nutzt, missbraucht sie für üble Zwecke. In dem Glauben, einem hehren Ziel zu dienen.

„Die magischen Artefakte schenken Erkenntnis und Weisheit, das Gute und Schöne auf der einen Seite – und Macht und Gewalt auf der anderen Seite. Es ist verführerisch zu glauben, die magischen Artefakte sollten nur auf die eine Weise benutzt werden. Aber nichts in der Welt ist einseitig. Alles muss ausgeglichen sein. So will es der Geist von Leben und Tod, Erde und Himmel, Frau und Mann, Licht und Dunkel.“ [S. 318]

..und was wir mit ihnen oder sie mit uns machen

Jenny-Mai Nuyen konfrontiert ihre Protagonisten mit philosophischen Fragestellungen. Man merkt diesem Roman deutlich an, dass die Autorin sich seit einigen Jahren mit Philosophie beschäftigt. Gleichzeitig versteht sie es exzellent, eine Welt zu beschreiben, Charaktere zu zeichnen und eine Handlung zu plotten. „Die Töchter von Ilian“ ist trotz aller philosophischer Einwürfe ein schön geschriebenes High Fantasy Buch mit einer dramatischen Handlung. Jenny-Mai schreibt extrem detailverliebt und plastisch, egal ob es sich um zauberhafte Landschaften oder um rohe Gewalt dreht. Es ist nicht einfach, ihren Protagonisten klare Sympathie oder Abneigung entgegenzubringen. Denn sie alle offenbaren Stärken und Abgründe, die ihr Handeln bestimmen. Den Elfen Fayanú stellt die Autorin als Trans-Mann dar, was perfekt den vielschichtigen Hintergrund der Geschichte ergänzt. Fayanú eignet sich am ehesten zum Sympathieträger, da er in seiner extremen Zerrissenheit Empathie und Stärke bewahrt,

Leider erdrückt der anhaltende Fokus auf Rianon und Walgreta im zweiten Drittel des Romans den Spannungsbogen. Dieser Erzählstrang hätte deutlich kürzer ausfallen dürfen. Einige dieser Passagen zögern das Finale hinaus, ohne essenziellen Input zur Geschichte zu geben. Stellenweise hatte ich den Eindruck, dass unbedingt noch mehr blutiges Kampfgeschehen in der Handlung untergebracht werden sollte, ohne dass diese nötig gewesen wäre. Hier hängte mich die Erzählung stellenweise ab, anstatt mich weiter mitzureißen.

Zum Ende der Geschichte sollte man sich als RezensentIn am besten überhaupt nicht äußern. LeserInnen, die die Autorin bisher noch nicht kennen, werden ganz sicher überrascht sein. Denn Jenny-May Nuyen denkt sich, ähnlich wie Oliver Plaschka, immer etwas ganz spezielles aus. So auch für das Ende von „Die Töchter von Ilian“.

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Eva Bergscheider

Mehr über Jenny-Mai Nuyen und den Werdegang des Romans „Die Töchter von Ilian“ findet ihr im Artikel über die Leipziger Buchmesse.

Die Töchter von Ilian
Jenny-Mai Nuyen
Fantasy
Fischer Tor
13. März 2019
652

Funtastik-Faktor: 75

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