Singularity – Joshua Tree

Spannende Gesellschaftsvision mit reichlich Thriller und etwas Endzeit

Singularity - Joshua Tree © Fischer Tor
Singularity © Fischer Tor

„Singularity“ von Joshua Tree ist der neueste Streich in der Self-Publisher-Offensive von Fischer Tor. Tree ordnet sich damit in eine Reihe von Autoren ein (Peterson, Morris, Thariot), die vor allem mit Berechenbarkeit und Massentauglichkeit überzeugen. Was man einem Publikumsverlag nicht unbedingt vorwerfen kann. Meine Erwartungshaltung war dementsprechend gering, ich wurde jedoch positiv überrascht. Joshua Tree beweist durchaus Mut zu Neuem. „Singularity“ ist tiefgründiger, komplexer und insgesamt um (virtuelle) Welten besser als seine Weltraumabenteuer („Behemoth“, „Hypervoid“) und die scheinbar am Fließband erscheinenden SF-Thriller („Vernichtung“, „Meteor“).

Die überflüssigen Menschen

Transhumanismus und seine Folgen ist das erste große Thema, an das der Leser herangeführt wird. Zum einen in der Figur des auf den ersten Blick wichtigsten Protagonisten James. Er ist Hausdiener und ein normaler, (gen)technologisch nicht verbesserter Mensch. Eigentlich sind diese „Überflüssigen“ eine Sorge und Last auf den Schultern der automatisierten Gesellschaft. Dass ausgerechnet James die vor 20 Jahren verschollene Tochter seines fast allmächtigen Herrn finden soll, ist ein außergewöhnlicher Vertrauensbeweis. Oder steckt etwas anderes dahinter?

Bereits am Anfang der Erzählung zeigt Tree mit mehr oder weniger subtilen Anmerkungen und Dialogen, wie weit sich die verbesserten Menschen inzwischen vom Homo Sapiens entfernt haben. Als Leserin versteht man, wie glücklich sich in diesem beklemmenden Szenario James eigentlich schätzen sollte. Denn im zweiten Handlungsstrang – eine klassische Heldenreise – begegnen wir Adam. Er verlebt seine Kindheit an Bord eines ganz besonderen Zuges, der eine eigene Welt bildet. Dem „Snowpiercer“ der gleichnamigen Netflix-Serie nicht unähnlich. Überflüssige fahren hier von Ort zu Ort und erledigen scheinbar sinnlose Arbeiten. Eine Beschäftigungstherapie, unterbrochen von heftig umkämpften Zuckerrationen und einer drogenartigen VR-Realität.

Jenseits der Sterne, jenseits der Realität

Ein dritter Handlungsstrang sich spielt beinahe vollständig in der Virtualität ab: eine Simulation einer sich im Aufbau befindlichen Kolonie auf einem weit entfernten Planeten. Hier treffen wir die dritte Protagonistin Rhea, die in der Virtualität ihre Arbeitsstelle hat. Das Verschwimmen zwischen dieser und der Realität, das Spannungsfeld zwischen Simulation und Wirklichkeit, sind hier die treibenden Themen. Und natürlich die Möglichkeit der Menschheit, eine zweite Heimat zu finden. Auch dieser Strang macht Laune. Stellenweise merkt man, dass es Tree nicht gerade leicht fällt, eine weibliche Protagonistin zu schreiben. Diese Dissonanz umschifft er jedoch mit Fingerspitzengefühl. Misogyn oder platt wird es niemals. Ausgerechnet diese Ebene der Erzählung, die am Anfang noch als beiläufiges Füllwerk erscheint, fügt sich immer dichter in das Gesamtbild ein. Dass sie schlussendlich sogar entscheidend wird, zeigt eine der unerwarteten Stärken von „Singularity“: Komplexität.

Viele Köche verfeinern den Brei

Dieser Roman ist das bis jetzt mit Abstand ambitionierteste Projekt des Autors. Und dessen war sich Tree auch bewusst, wie er im Interview auf Tor Online erklärt. Und es war keineswegs ein Alleingang. Nicht nur sein in der Vergangenheit schon als Co-Autor in Erscheinung getretener Bruder, sondern auch Lektor Andy Hahnemann wirkten mit. Laut Trees Facebook Posts holte er mit Ralph Edenhofer und Ivan Ertlov zwei erfahrene Kollegen mit ins Boot. Die sich [Zitat] „das Manuskript zur Brust nahmen und kräftig durchschüttelten“. Das merkt man. Plausibilitätsprobleme oder Logikfehler, wie sie in Trees älteren Werken immer wieder auftauchten, sucht man hier vergeblich. Jede Formulierung sitzt. Jeder Twist hat Hand und Fuß, der Spannungsbogen ist durchgehend gelungen. Ein großer Roman, gekonnt umgesetzt. Zumindest bis zum …

Hollywood-Showdown

Das Finale ist unterhaltsam, packend und spannend bis zur letzten Seite. Aber im Vergleich zu allem davor dann doch zu sehr auf Actionhero getrimmt. Zwar wird es an keiner Stelle so platt wie der „James Bond für Arme“ Showdown in Frank Schätzings „Limit“. Aber hier hätte man Dramatik auch ohne „allerletzte Chance in der allerletzten Sekunde“ Standardkniff aufrechterhalten können.

Jedoch ist „Singularity“ auch mit diesem Abschluss immer noch großartige, visionäre Science Fiction. Ich persönlich hätte dem Autor diese Klasse nicht zugetraut . Ich hoffe, dass der kommerzielle Erfolg diesem Weg Recht gibt, sowohl für Joshua Tree, als auch für Fischer Tor. Dem Verlag würde es nämlich gut stehen, nicht nur auf die sicheren Pferde der Selfpublisher zu setzen. Sondern deren Hauptstärke Nonkonformität mit offenen Armen willkommen zu heißen. Die lakonisch geschriebene Kreativitätsexplosion einer Gabriele Nolte, die spaßig-beißende Gesellschaftskritik eines Ivan Ertlov und die kunterbunte Erzählfreude eines Johannes Siemers wären auf jeden Fall Bereicherung fürs Programm.

Fazit

„Singularity“ ist ein rundum gelungener, ambitionierter Science-Fiction Roman, der beklemmende Zukunftsvision mit dem persönlichen Schicksal seiner Protagonisten gekonnt verknüpft. Spannung und Erzählkunst auf durchgehend hohem Niveau lassen kaum zu Atem kommen. Alle Fäden werden geschickt zu einem großen Ganzen gewoben. Eine rasante und dennoch detailreiche Erzählung, die man so im deutschsprachigen SF Bereich selten liest. Für mich einer der besten Romane des bisherigen Lesejahrs.

Dank! an Gastredakteurin Tamara Yùshān

Singularity
Joshua Tree
Science Fiction
Fischer Tor
April 2021
464
89

Ein Gedanke zu „Singularity – Joshua Tree

  1. Da gab es nicht viel zum Durchschütteln, das war schon in der Rohfassung verdammt gut.
    Eines jener Bücher, wo man einem Kollegen einfach nur neidlos gratuliert und sich ein kleines bisschen priviligiert fühlt, weil man es 1. im Urzustand und 2. vor allen anderen lesen durfte 😉

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