The Creature from Cleveland Depths – Fritz Leiber

Von äußerer und innerer Bedrohung

The Creature from Cleveland Depths - Fritz Leiber © Wilder Publications
The Creature from Cleveland Depths© Wilder Publications

Fritz Leibers Novelle „The Creature from Cleveland Depths“ spielt in den USA zur Zeit des Kalten Krieges. Aufgrund der atomaren Bedrohung leben die Menschen zum großen Teil unter der Erde, in den Cleveland Depths. Sie arbeiten allenfalls noch auf der Oberfläche.

Der Schriftsteller George „Gussy“ Gusterson ist Autor von „insanity novels“ und verheiratet mit der Künstlerin Daisy. Gussy ist ein kreativer Kopf und liefert seinem langjährigen Freund Fay, der die Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Technologieunternehmens Micro Systems leitet, Ideen, die Fay auf ihre Umsetzungsmöglichkeit überprüft.

Fay lebt und arbeitet unter der Erde. Er kommt nur noch gelegentlich an die Oberfläche, um seine Freunde zu besuchen und mit Gussy über neue Projekte zu sprechen. Micro Systems hat aus dieser Kooperation heraus bereits den Moodmaster und den Tickler entwickelt.

Eine Maschine am Körper, eine in seinem Inneren

Beim Einsetzen der Handlung gibt es den Moodmaster bereits als Massenprodukt. Er ist eine Art Nanomaschine, die sich im menschlichen Kreislaufsystem befindet. Er überwacht und optimiert Blutwerte, verabreicht bei Bedarf Euphrin oder Depressin, gelegentlich auch Adrenalin zur Steigerung der Arbeitszufriedenheit und Produktivität. Der Moodmaster erinnert ein wenig an die Stimmungen steuernde Droge Soma aus Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Ein mit Euphrin verwandtes Aufputschmittel namens Euphorin gibt es in der Serie „Raumpatrouille Orion“.

Der Tickler ist ein Gerät zur Selbstoptimierung des Menschen. Vordergründig dient er dazu, das Leben seiner Träger*innen zu organisieren und zu erleichtern, weshalb er sich wachsender Beliebtheit erfreut. Zum Verkaufsstart einer neuen Ausgabe bilden sich schon frühzeitig Schlangen vor den Geschäften, in der Absicht, zu den ersten Menschen zu gehören, die das Upgrade besitzen und damit technologisch ganz vorne zu sein.

„Day by day, in every way, you’re learning to listen…and obey.“

Aber ja, wir kennen das und müssen zwischendurch immer wieder daran denken, dass die Novelle aus dem Jahr 1962 stammt. Dass es immer irgendwelche Menschen gibt, die Macht und Kontrolle ausüben wollen, deutet sich szenisch in eher beiläufigen Hinweisen an, wie dem, dass alle bei Micro Systems den Tickler tragen. Nur die beiden Unternehmenschefs nicht. Dass es Maschinen gibt, die Macht ausüben wollen, ist ein relativ neuer Gedanke. Auch, dass sie Menschen etwas zuflüstern, was wir aus George Orwells „1984“ kennen.

Von der technologischen Erweiterung zur Selbstständigkeit

Es geht auch um Fragen künstlicher Intelligenz. Der Tickler organisiert nicht nur das menschliche Leben, er analysiert Daten, trifft Entscheidungen und, so die einmal geäußerte Befürchtung, denkt für die Menschen. Leiber deutet Probleme nicht nur an, sondern diskutiert sie auch dialogisch auf unprätentiöse und nicht-langweilige Weise, wobei gelegentlich einzelne Puzzleteile zusammengefügt werden müssen. Wenn der Tickler Entscheidungen trifft, kann er dann denken? Wenn er denken kann, hat er dann Bewusstsein?

Durch Fahrlässigkeit in die Dystopie

Die Novelle gehört zur Science Fiction, weil sie ein spekulatives Szenario beschreibt, in dem die Gesellschaft über Zukunftstechnologien verfügt. Weiter ist sie eine Dystopie, die eine Warnung vor dieser Technologie enthält und erste Ansätze aufzeigt, wie im Zuge der Selbstoptimierung das menschliche Selbst abgeschafft werden könnte. Man geht naiv an die Umsetzung, ohne sich Gedanken zu machen, die man heute als Technikfolgenabschätzung bezeichnen würde, und verursacht katastrophale soziale Konsequenzen. Der Umgang mit einer neuen Technologie gestaltet sich leichtsinnig oder fahrlässig.

Technologie als „Creature“?

„The Creature from Cleveland Depths“ folgt in seiner Titelgebung „The Creature from the Black Lagoon“ („Der Schrecken vom Amazonas“), einem Horrorfilm von Jack Arnold aus dem Jahr 1954, in dem die Kreatur eine humanoide Lebensform ist, die im Wasser wie auch an Land leben kann. Sie wird als Kiemenmensch bezeichnet. Während dieser jedoch offensichtlich lebendig ist, stellt sich beim Tickler die Frage, was überhaupt Lebendiges lebendig macht. Er ist nicht organisch, kann aber vielleicht denken und Entscheidungen treffen. Versuchen die Tickler sich mit dem menschlichen Leben zu verbinden, so unvollkommen dies ist?

Dies wird gegen Ende der Novelle zur zentralen Frage, deren Antwort darüber befindet, was die Tickler machen werden, nachdem sie sich, wie in einem Intranet, vielleicht auch einem Darknet, miteinander verständigen. Ohne dass ihre Träger davon wissen. Wie die Menschen durch sie eine technologische Extension erfahren, können die Tickler durch den Menschen eine Erweiterung in das Organische vollziehen. Die Tickler sind in dieser seltsamen Form von Interaktion die faktischen, die Menschen hingegen die eingebildeten Gewinner.

Die Geschichte steuert auf einen Konflikt zu, dessen Auflösung sich mit einem Zitat aus Sunzi „Die Kunst des Krieges“ beschreiben lässt:

„Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen.“

Wobei an dieser Stelle offen bleibt, wer wessen Widerstand bricht.

Fazit

Fritz Leiber hat vor rund 60 Jahren mit „The Creature from Cleveland Depths“ eine Zeit beschrieben, in der das Leben der Menschen im Wortsinn zunehmend von einer Technologie gesteuert wird, die beispielsweise Smartphone, Smartwatch, PDA oder BlackBerry vorwegnimmt. Der menschliche Erkenntnisdrang kann als Frevel an der Natur gesehen werden. Hier scheint ein altes Motiv der literarischen Phantastik auf, wodurch Nähe zu allseits bekannten Klassikern der Science Fiction und des Horrors entsteht.

Im Jahr 1977 erschien der Text in deutscher Übersetzung durch Tony Westermayr als „Die Geschöpfe von Cleveland Depths“ im Sammelband vom Goldmann Verlag „Die Spiegelwelt“.

DANKE an Gastredakteur Holger Wacker für die Besprechung des englischsprachigen Originals.

The Creature from Cleveland Depths
Fritz Leiber
Science Fiction, Dystopie
Wilder Publications
besprochene Ausgabe: 2008
Buch
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