Von Sümpfen, übernatürlichen Kräften und einem mysteriösen Vermisstenfall
Im US-Staat Louisiana, in der Nähe der Metropole New Orleans, gibt es noch Ortschaften, die von der Außenwelt fast komplett abgeschnitten sind. Kabelfernsehen oder Handyempfang existiert hier nicht, die wenigen Bewohner leben vom Fischfang und den Touristen. Zweimal am Tag kommt die Fähre und es fallen Horden an Touristen ein, vornehmlich, um sich hier übersinnlichen Rat zu holen.
La Chachette ist dafür bekannt, dass hier Menschen mit besonderen Gaben leben, die Zukunftsdeutung oder den Kontakt zu Verstorbenen beherrschen, oder Verlorenes finden. Auf der einzigen Straße des Dorfes bieten die Bewohner ihre Dienste gegen harte Dollar an.
Vor rund siebzehn Jahren kamen hier gleich zehn Zwillingsgeburten zur Welt. Die Zwillinge – von unterschiedlichen Müttern zur selben Zeit geboren – vereint ihr Leben lang eine besondere Verbindung. Dazu sind sie alle mit unterschiedlichen mystischen Fähigkeiten ausgestattet – mit einer Ausnahme. Grey hat zumindest bisher noch keine Kraft an sich entdeckt.
Greycie, wie sie eigentlich heißt, verkrachte sich mit ihrer Zwillings-Freundin, bevor sie zu ihrem Vater nach Little Rock zog. Jetzt kommt sie zurück in den Swamp. Nicht nur, um ihre Großmutter zu besuchen, sondern auch um nach ihrem verschwundenen Zwilling zu suchen. Dass sie immer wieder kurze Visionen ihrer vor irgendetwas fliehenden Freundin bekommt, belastet sie und motiviert zugleich ihre Nachforschungen. Schnell wird klar, dass Elora sich nicht einfach davongemacht hat. Es muss ihr etwas zugestoßen sein. Die Vermutung eines Gewaltverbrechens liegt nahe. Doch wer ist der Täter, was sein Motiv?
Als Grey anfängt tiefer zu graben, stößt sie auf ein ganzes Geflecht an Geheimnissen und Verdächtigen. Und dies ausgerechnet dann, als ein weiterer, verheerender Hurricane den Ort bedroht.
Viel Atmosphäre, zu wenig Nutzung des übernatürlichen Potenzials
Eine verschwundene Jugendliche, eine zurückgekehrte Freundin, das American Bayou als Handlungsort – damit kann man als Autorin eigentlich wenig falsch machen.
Die schwüle Atmosphäre am Old Man River dient als Kulisse, um uns zunächst die Ortschaft und ihre Bewohner näher zu bringen. Hier werden dann auch die Zwillingsgeburten thematisiert, allerdings ohne, dass diese letztlich in der Handlung wirklich eine große Rolle spielen. Wichtiger sind die Figuren, die uns peu à peu vorgestellt werden. Was treibt diese um? Wie sind sie einzuschätzen? Inwieweit haben sie mit dem Verschwinden Eloras zu tun?
Seltsam ist und bleibt die Tatsache, dass sich die Autoritäten – zum Beispiel die Polizei – wenig um das Verschwinden des Mädchens zu kümmern scheinen. Nach einer kurzen Suchaktion in der Nacht, in der Elora vermisst wird, scheint sich weitgehend jeder mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass sie weg ist.
Von der Anlage her ist „Dark and Shallow Lies – Von seichten und dunklen Geheimnissen“ also ein übernatürlicher Thriller der sich, Dank der Erzählerin, vornehmlich an ein Young Adult Publikum wendet.
Zu Beginn des Romans lässt sich Ginny Myers Sain viel Zeit. Bei der Vorstellung der vielen Figuren, von denen letztendlich nicht alle handlungsrelevant sind, fordert sie das Gedächtnis ihrer Leser. Die teilweise ausufernden Unterhaltungen über die Verschwundene sorgen für gewisse Längen im Text. Nach diesem doch recht ausschweifenden Entrée geht es im Wesentlichen um die Erforschung der Tat, der Suche nach Motiv und dem Verantwortlichen.
Insoweit ist dies ein eher ruhiger Kriminalplot, der von seinem stimmig beschriebenen Handlungsort lebt. Die eigentlich so unterschiedlichen, übernatürlichen Befähigungen der Zwillinge sind eher vernachlässigbar und verbleiben leider bloßes schmückendes Beiwerk. Schade, hier hat die Autorin vorhandenes Storypotenzial, das sie gewinnbringend in den Plot hätte einbringen können, ungenutzt liegenlassen.
Carsten Kuhr
Dark and Shallow Lies, Band 1
Fantasy
Panini Verlag
Mai 2022
Buch
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tab indivisuell
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